Das Schweizer Radio und Fernsehen lieferten diesen Sommer eindrückliche Bilder und erstaunliche Geschichten, wie es in unserem Land hätte ausgesehen haben können, damals, vor 100 Jahren. Schauspieler und Laien, Filmemacher und Reporter verweilten vorübergehend in nostalgischen Rückschauen. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte dannzumal aber abrupt sowohl die Belle Epoque, als auch die allgemeine Euphorie und Aufbruchsstimmung der Bevölkerung beendet.
Statistiken als Grundlage
In 100 Jahren hat sich in der Schweiz unglaublich viel verändert. Realisieren wir heute zum Beispiel, dass sich die offizielle, wöchentliche Arbeitszeit von 60 auf 40 Stunden reduziert hat? Dass bezahlte Ferien von 0 auf 5 Wochen zugenommen haben? Und sich folglich die Jahresarbeitszeit um 40% reduziert hat. Und damals Burnout ein unbekanntes Wort war?
Können wir uns vorstellen, dass ein ungelernter Bauarbeiter heute trotzdem 53 x (./. Teuerung = 45 x) mehr verdient? Und dass er von seinem Verdienst zur Zeit bedeutend weniger als 10% für Nahrungsmittel ausgibt, während sein Kollege von damals dafür deutlich mehr als 40% seines kargen Verdienstes aufzuwenden hatte? Da erstaunt es dann wenig, dass sich gleichzeitig der Ausgabenanteil für Reisen und Verkehr um 400% erhöht hat. Und heute an einem einzigen Samstag in Kloten 90‘000 Menschen ein Flugzeug besteigen Richtung Palmen, Sand oder Chill-out! Wie viele es damals waren? Nun, es gab natürlich weder Passagierflugzeuge, noch den Airport.
Das alles spielte sich ab vor einem eindrücklichen Bevölkerungsszenario: Heute überziehen landschaftskonsumierende Siedlungen für 8,1 Millionen Menschen unser Land. Damals lebten hierzulande 3,9 Millionen, in Städten und Dörfern. Agglomerationsbrei war ein unbekanntes Wort. Diese Verdoppelung der Anwohner hat inzwischen eine Verachtfachung des Energieverbrauchs ausgelöst.
Die Lebenserwartung bei Geburt ist für Frauen von 57 auf 85 Jahre, für Männer von 53 auf 81 Jahre gestiegen. Es soll Leute geben, die da einen ursächlichen Zusammenhang mit der Tatsache vermuten, dass die einst staatstragende FDP im gleichen Zeitraum von ihren 111 Sitzen im Nationalrat deren 84 verloren hat und heute bei 27 Sitzen dümpelt. Eher mit einem geänderten Partnerverständnis hat zu tun, dass von 100 versprochenen Ja-Worten zur Ehe damals in der Folge 5% geschieden wurden – heute liegt die Scheidungsquote bei 43%, in der Stadt Zürich bei über 50%.
Konstanten des Wandels
Folgt man den Argumenten des Fachmanns Jakob Tanner, Professor an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich im MIGROS-MAGAZIN, wiederholt sich ein Teil der Geschichte.
So schildert er die Zeit vor 100 Jahren als eine der beeindruckenden Entdeckungen und Entwicklungen. Neuerungen konnten auch in der Kommunikationstechnik und in den Medien konstatiert werden (Telefon, Telegraf). „Die Schweiz stand schon damals im europäischen Vergleich mit dem Pro-Kopf-Einkommen an der Spitze. Es breiteten sich aber gleichzeitig dumpfe Niedergangsängste aus. Viele hatten das Gefühl, dass sich die gesellschaftlich Ordnung auflöst.“
Einkommens- und Vermögensverteilung waren sehr ungleich. In den Städten herrschte Wohnungsnot. Das Bürgertum war verunsichert und es liess sich eine eigentliche Krise des Liberalismus beobachten. Besonders aufhorchen lässt Tanners Feststellung: „Die Schweiz wird in dieser Zeit [1914] ein gespaltenes Land mit starken Klassengegensätzen.“
Niemand wird verneinen, dass auch in der Gegenwart neue Erfindungen in der Kommunikationsbranche und ein ausgeprägter Wandel von Printmedien zur Internetwelt die Szene aufmischen. Entgegen medial unreflektierter Meldungen aus Frankreich (Thomas Piketty lässt grüssen) die Welt müsse umverteilen, waren die Verdienst- und Gewinnmöglichkeiten schon damals sehr ungleich, womöglich ungleicher denn heute. Undefinierbare Ängste als Folge der Globalisierung, Verwilderungstendenzen in der Gesellschaft, Krise des Liberalismus und des Bürgertums – also alles schon gehabt! Und nach wie vor sind wir reich – das reichste Land Europas.
Lakonisch lässt sich dieser Vergleich schliessen mit der Bemerkung: Die Schweiz ist auch 2014 ein gespaltenes Land. Vor 100 Jahren als Folge auflodernder Klassengegensätze, heute unvereinbarer helvetischer Zukunftsvorstellungen im Global Village. Und wenn 1914 noch vereinzelt Reformen durch politische Parteien vorgeschlagen wurden – an der Urne wurden sie meistens … abgelehnt.
Herbeigeredete Armut
Viele Leute im Land waren arm, damals. Wenn vor Monatsende das Geld ausging, musste beim Essen gespart werden. Die Generalmobilmachung erschwerte die Situation zusätzlich. Die Frauen hatten gewaltige Arbeit zu leisten und taten dies ohne zu murren. Heute wird diese Situation da und dort im Nachhinein missinterpretiert. Es wird von einer unerwünschten Fixierung der Frau auf ihre traditionelle Rolle in Hof, Küche und Herd gesäuselt. Wir sollten uns vor solchen einfachen Qualifikationen – durch die Brille des 21. Jahrhunderts gesehen – hüten.
Armut war also weit verbreitet. Krankheit, Unfall verursachten Kosten, für die keine Versicherung aufkam. Den Begriff Sozialhilfe kannte niemand. Heute reden gewisse Kreise eine imaginäre Armut medienwirksam herbei, 800‘000 Menschen sollen bei uns armutsbedroht sein. Caritas ruft gar zur „Dekade der Armutsbekämpfung“ auf. Da hätten unsere Vorfahren ungläubig den Kopf geschüttelt.
Heute fühlt sich arm, wer kein Handy für jedes Kind oder kein Auto vermag. Während 2014 fast 9000 Lehrstellen unbesetzt blieben, stieg die Anzahl Arbeitsloser mit Doktortitel innert 10 Jahren von 1270 auf 3000. Sehr viele Studenten registrieren sich schon während des letzten Semesters auf dem RAF als arbeitslos. Zahlreiche Psychologen, Philosophen oder Kunsthistoriker stehen auf der Strasse, meldete im August der Blick. Alle werden sie als arm eingestuft – auch Studenten und Lehrlinge mit kleinem Einkommen. Man kann „Armut“ auch herbeireden oder selbst verschulden.
Auflodernder Nationalismus
Damals wie heute hielt man einen grossen Krieg für unwahrscheinlich, meint Tanner. Doch, „es macht sich allenthalben ein intoleranter Nationalismus bemerkbar. Die Verengung des Horizontes durch nationale Abgrenzungen und Diskriminierungen stellen ein Gefahr dar.“
Diese Vermutung lässt sich 100 Jahre später erhärten. In vielen Ländern Europas punkten momentan Populisten. Sie kritisieren lautstark (ab und zu auch berechtigterweise) „die da oben in Bern oder Brüssel“. Doch sie ignorieren, dass konstruktive Problemlösungen nie einfach sind, aber mehr voraussetzen als publikumswirksames „Establishment-Bashing“.
Besonders die EU tut sich schwer. Bald 70 Jahre Frieden in West-Europa – eine einmalige Zeitspanne in der Rückschau über die Jahrhunderte – ist zur banalen Selbstverständlichkeit geschrumpft. Selbstverständlich ist ein ambitiöses, multinationales Projekt der Versöhnung und des Friedens schwierig. Es gibt viel zu kritisieren. Darob gerät das erreichte und zu verteidigende Ziel in Vergessenheit. Zu Unrecht.
Unsicherheit grassiert
Wenn sich die Menschen verunsichert fühlen, fahren Populisten reiche Ernte ein. In der Schweiz darf man nicht von Überforderung der Wähler sprechen, natürlich nicht. Das ist politisch höchst unkorrekt, in einem Land, wo das Volk immer Recht hat. Wer allerdings realisiert, dass die Auswirkungen der Globalisierung, die Ansprüche der Wissensgesellschaft mit der digitalen Revolution und die verwirrliche Komplexität der Probleme uns immer öfters schlicht überfordern, liegt richtig. Das darf unumwunden zugegeben werden. Populisten nutzen diese Instabilität der Gesellschaft, indem sie simplifizieren und trivialisieren. Dann allerdings lassen sich einfach Lösungen (die es gar nicht gibt) vermarkten und politisch erfolgreich einsetzen.
100 Jahre Verlässlichkeit
Die Schweiz hat sich über die letzten 100 Jahre als Insel der Sicherheit und Verlässlichkeit behauptet. Heute, wie damals ist der Faktor Sicherheit jedoch auch stark von internationalen Entwicklungen beeinflusst. Verlässlichkeit dagegen ist eine weitgehend persönlich geprägte Qualität. „Auf dich ist Verlass!“ Ein Kompliment höchster Güte. Sagen wir das an Weihnachten einmal laut und deutlich jemandem, der es verdient. Oder sogar mehreren uns nahestehenden Menschen?