Der einstmals verwöhnte Fischer vom Zürichsee war seit über 84 Tagen ohne Erfolgserlebnis. Er war, so haderte er, vom Pech verfolgt. Seine Frau verbot ihm sogar, weiterhin mit dem glücklosen Kollegen Marcello, genannt das „Schlitzauge“ - den er vor Jahren an der Basler Fasnacht kennen gelernt hatte - zusammenzuspannen. Stattdessen riet sie ihrem Gatten, mit erfolgreicheren Fischern in See zu stechen, hinaus Richtung Untiefen bei der Ufenau. Dezidiert brachte sie Rüdiger ins Gespräch. Er wäre der richtige Mann, erfahren im Netze auswerfen und im Übrigen seit mehreren Jahren als treu ergebener Wasserträger im Dienste ihres Angetrauten. Und zudem: „Er denkt anders, als Sie denken“. Allenfalls würde Rüdiger seinen Gehilfen, im Freundeskreis „Engel“ genannt, beiziehen. Letzterer genoss in Berufskreisen den Ruf eines begnadeten Märchenerzählers, der aus dem Nichts über Nacht „Tatsachen“ fabulierte, was sich beim stundenlangen Warten auf fette Beute als sicherer Wert erweisen könnte.
Marcello blieb seinem Freund trotzdem in treuer Interessengemeinschaft verbunden, umso mehr, als dieser in letzter Zeit immer öfter Anzeichen von Wahnvorstellungen verriet. Schliesslich teilten die beiden seit Jahren wichtige Charaktereigenschaften. Beide kämpften sie unentwegt gegen Wind, Regierung und Wetter, gegen den äusseren Feind; ja, sie waren eigentliche Widerstandskämpfer von altem Schrot und Korn. Dafür investierten Sie nicht nur viel Zeit.
Eines Tages weihte der alte Mann Marcello in seinen Plan ein: Morgen würde er, zusammen mit zwei erprobten Berufs-Fischern und Kampfgenossen ausfahren, weit hinunter, See abwärts. Diesmal würde er seine Pechsträne beenden. Potz Schweizerzeit! Marcello staunte nicht schlecht und blinzelte gewohnheitsmässig.
So fuhren denn die Drei alsbald gen Nordwesten und legten ihre Leinen vor dem lieblichen Moränenhügel in Zürich-Enge aus. Gegen Abend biss tatsächlich ein grosser Fisch an. Die Drei waren überzeugt, einen präsidialen Fang am Haken zu haben. Allerdings konnten sie ihn nicht sogleich ins Boot hieven, stattdessen droht der in Panik geratene – war es ein gewaltiger Hecht? – ihr Fischerboot hinter sich her zu ziehen. „Nur mit der Ruhe“, schrie der alte Fischer und fuchtelte mit beiden Armen. „Das muss ein eingewanderter Marlin sein, der einheimische verdrängt. Wir sind zwar nur drei, aber so, wie wir für die Unabhängigkeit unserer Heimat kämpfen, so werden wir auch diesmal siegreich bleiben!“
Rüdiger riet besonnen zur Ruhe und putzte sich die Wasserspritzer von der randlosen Brille. „Lassen wir ihn zappeln, unsere Karten sind die besseren. Machen wir es uns gemütlich im Boot. Warum erzählst du uns nicht eines deiner Märchen, lieber „Engel“?“ Dieser liess sich nicht zweimal bitten. Eloquent holte er aus: „Es war einmal ein Überflieger, ein mächtiger Mann, der in seinem Schloss an der Bahnhofstrasse die Autonomie unseres Königreichs gefährdete, ja es an die EU ausliefern wollte.“ Der alte Mann, bereits etwas schwerhörig: „Eine Verschwörungstheorie …“ „Unterbrich ihn nicht, sonst kommen ihm Zweifel“, zischte Rüdiger mit überlegenem Grinsen, seinem Markenzeichen.
Es verging die ganze Nacht. Der „Engel“ erfand unermüdlich neue Märchen, sein Chef rieb sich die Hände vor Freude und Kälte; Hunger und Durst machten sich bemerkbar. Nur der alte Mann blieb ungerührt. Mit schmerzenden Händen umklammerte er die schneidende Leine. „Ich bin seit jeher für Widerstand! Lasst uns wachsam bleiben, nicht erlahmen im Kampf gegen den unsichtbaren Feind!“ Gerade wollte, im Morgengrauen, „Engel“ kichernd noch sein kürzlich erfundenes Märchen „Der Schlumpf und die tapfere Eva“ zum Besten geben, als Action aufkam.
Der Fisch begann zu kreisen – ein Anzeichen von Erschöpfung. Der alte Mann griff nach seiner Harpune …
Noch einmal hatte der alte Mann den Kampf gewonnen.
(Die Schilderung eines tatsächlichen oder erdachten Geschehens wird gemeinhin als Geschichte bezeichnet. Märchen sind nach landläufiger Ansicht Erzählungen, die von wundersamen Begebenheiten berichten. Im Unterschied zur Sage und Legende sind Märchen frei erfunden. Auch Ideologien können zu dieser Kategorie zählen. Erstere werden zuhanden der Kinderschar, letztere zuhanden der Erwachsenenwelt in Umlauf gesetzt. Märchen und Ideologien werden ab und zu trotzdem für wahr gehalten. Über Ideologien erfahren Sie mehr in drei Wochen im durchschaut! Nr. 54).