Als im Januar 2015 das Franken-Beben die Schweiz erschütterte, herrschte höchste Alarmstimmung. In jenen Chaostagen ergossen sich, ähnlich einem Dammbruch, aus Konzernchefetagen, Börsen- und Devisenzentren, Chefredaktionsbüros und selbst dem ehrwürdigen Bundeshaus massenweise Communiqués übers perplexe Publikum: geharnischte, verlegene, allwissende oder hyperventilierende, je nach Absender. Das Land drohte in den Wortmassen unterzugehen. Besonnene Kräfte versuchten zu beruhigen, allen voran die Spitze der Nationalbank.
Retter oder Totengräber?
War der überraschende Entscheid der SNB unverzichtbar oder unverantwortbar?
Zur Erinnerung: Den garantierten Mindestkurs von Fr. 1.20 für den Euro, im September 2011 durch die SNB eingeführt, gab es nicht mehr. Über Nacht hatte sich der Franken um 18 Prozent aufgewertet. Im Gleichschritt war die Schweizer Börse abgesackt. Für die Schweizer Exportindustrie und Tourismus Schweiz eine Horrornachricht. Umgekehrt profitierten Schweizer Ferienreisende, die ihre Destination in den EU-Ländern sahen entsprechend. Und: „Natürlich aus der Schweiz“, den stereotypen Werbeslogan, den wir tagtäglich am Fernsehen über uns ergehen lassen müssen, stand fortan für die Einkaufstouristen, die mit Extrabussen die benachbarten ausländischen Einkaufszentren überfielen.
Prügelknabe SNB
Mit der Aufhebung des Mindestkurses zum Euro am 15. Januar 2015 hatte die SNB alle überrascht, selbst im Ausland agierende, grosse Hedgefonds. Tagelang mussten sich das Direktorium der SNB rechtfertigen: Angesichts des drohenden Szenarios der unbegrenzten Anleihenkäufe und der Flutung der Märkte mit Liquidität durch die Europäische Zentralbank (EZB) hatte sich der schwerwiegende Entscheid aufgedrängt. Der schwache Euro war (und ist) keine valable Referenz mehr für den Schweizer Franken. Einerseits war das Risiko andauernder Schwächung unserer Währung mittels Interventionen auf dem Markt über das vertretbare Ausmass hinaus schlicht zu gross geworden. Andererseits drohten Verluste auf den Devisenbeständen, beide Risiken zusammen wurden schliesslich, nach sorgfältigem Abwägen, als zu hoch empfunden.
Sogleich wurden zwei auseinanderdriftende Reaktionen betroffener Kreise medial breitgewalzt. Da waren jene, die auf Jordan einhieben. Stellvertretend etwa: Nick Hayek, Swatch-CEO forderte unverhohlen eine Reform der Nationalbank: Das grösste Risiko für den Standort Schweiz sei ihre „offene Flanke – wir operieren quasi ohne Nationalbank. Sie hat sich vor den Augen der ganzen Welt aus dem Spiel genommen“. Nestlé Chef Paul Bulcke kritisierte die veränderten Rahmenbedingungen in der Schweiz. „Die Regulierung nimmt auf der ganzen Welt zu, doch in der Schweiz besonders stark. Das verstehe ich nicht.“
Jean-Michel Cina, Walliser Volkswirtschaftsdirektor wusste - ohne Selbstzweifel -, dass „der Zeitpunkt des Kurswechsels sicher falsch gewesen sei“. SP-Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer wiederum forderte aufgebracht, „es brauche eine neue Nationalbankpolitik. Jordan und seine Equipe müssen weg.“ In gewohnt ideologisch gefärbter Tonalität äusserte sich Vania Alleva, Co-Präsidentin der Gewerkschaft Unia: „Die Aufhebung der Wechselkursuntergrenze schadet dem Erfolgsmodell Schweiz. Sie hat sich als schlimmer Fehler entpuppt.“ Besonders genervt zeigte sich – als Beispiel medialer Berichterstattung – Thomas Daum in der ZEIT: „Nachvollziehbar ist der Entscheid vom 15. Januar nicht einmal für Experten.“
Verständnis für die SNB
Gelassen reagierte Severin Schwan, Roche-Konzernchef: „gut verkraftbar sei der Entscheid der SNB. Auch Christoph Blocher (SVP) mochte nicht in den Jammergesang politischer Akteure einstimmen. Er lobte Thomas Jordan sogar ausdrücklich: „Jordan ist eine graue Maus, aber alle guten Notenbanker sind graue Mäuse.“ Jean-Pierre Roth (von 2001 bis 2009 Präsident des Direktoriums der SNB) beschwichtigte und erinnerte an das Jahr 1973. Damals „entschied die SNB, die Anbindung des Frankens an den Dollar aufzuheben. Innerhalb von sechs Monaten verlor der Dollar mehr als 25 Prozent seines Wertes“. Der harte Franken ist für Roth keine Strafe, sondern eine Auszeichnung.
Auch Thomas Straubhaar, Schweizer Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg, wies schon damals darauf hin, dass die Öffnung der Geldschleusen durch EZB eine Abwertung des Euros zur Folge hätte. „Genau das hatte die SNB vorausgeahnt. Deshalb hatte sie eine Woche vor dem absehbaren QE (Quantitave Easing) der EZB beschlossen, die Notbremse zu ziehen.“ Ernst Baltensberger (em. Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bern) zeigt Verständnis für den radikalen Schritt der SNB. „Längerfristig gesehen, ist dies vielleicht in der Tat die überzeugendere Lösung.“
Zehn Monate danach
Die Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich hat ihre Herbstprognose revidiert. Sahen die Spezialisten noch im März 2015 eine schrumpfende Wirtschaftsleistung voraus, ist der Ausblick jetzt mit einem BIP-Wachstum von 0,9 Prozent gewertet. Offensichtlich wurden die Fachleute von der hohen Anpassungsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft überrascht. Den Frankenschock hat diese offensichtlich „geschluckt“, wenn auch mit zum Teil grossen Opfern, dies sei nicht verschwiegen. Schweizer Produzenten haben ihre Preise sofort gesenkt, zum Teil wurde dies durch die tieferen Einkaufspreise für Verarbeitungsmaterial aus dem EU-Raum erleichtert. Doch der Margenzerfall ist substanziell, was wohl zu einem weiteren Anstieg der Kurzarbeit, Stellenverlagerungen ins Ausland und -streichungen führen dürfte.
Der Schweizer Tourismus Verband (STV) vermeldet für die ersten neun Monate 2015 einen geringfügigen Rückgang der Logiernächte um 0,5 Prozent.
Der Kurs des Schweizer Frankens zum Euro ist inzwischen von 0.99 auf ca. 1.08 gestiegen und hat damit rund die Hälfte des Januarschocks wettgemacht. Auch die Schweizer Börse (SMI) hatte sich rasch aufgerappelt. Sechs Monate nach dem Taucher waren die 9259 Punkte wieder erreicht. (Inzwischen steht der SMI am 20. November 2015 auf 9022 Punkten).
Keine Rezession in der Schweiz
Dies ist die erfreuliche Botschaft. Zu akzeptieren gilt es im Moment, dass der Schweizer Franken nach wie vor überbewertet ist. Doch die Schweizer Unternehmen haben sich bravourös geschlagen, einmal mehr.
Es ist zu beobachten, dass die wöchentlichen Arbeitszeiten da und dort verlängert wurden, um die Gestehungskosten konkurrenzfähiger zu gestalten. Dass dies von den Mitarbeitern akzeptiert und verstanden wird, ist ein grossartiges Qualitätszeugnis. Zurzeit ist die zukünftige Umsatzentwicklung vor allem abhängig vom Konjunkturverlauf in Europa und den USA. Eric Scheidegger vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) gibt sich da zuversichtlich.
Wie weiter? Deregulierung!
Illusionslos ist zu konstatieren, dass die kleine Schweiz den weltweiten Beeinflussungskräften auf den Schweizer Franken weitgehend machtlos gegenübersteht. Jetzt drängen sich gebieterisch die Fragen auf, was im Land selbst zur Notlinderung der betroffenen Branchen zu tun wäre. Die Verbesserung der Standortqualität (ohne Steuergeschenke!) steht im Vordergrund.
Ein ganzer Strauss von Massnahmen wartet darauf, gepflückt zu werden. Die Politik ist gefordert. Die Idee einer Regulierungsbremse analog der Schuldenbremse wird von avenir suisse lanciert, der Think-Tank weist auch darauf hin, dass eine rasche Reduktion der teilweise volkwirtschaftlich sinnlosen Belastungen die Wettbewerbsfähigkeit einheimischer Betriebe stärken würde. Administrative Kosten in der Höhe von 5 Prozent des BIP (ca. 30 Milliarden Franken!) könnten allein mit einem zügigen Abbau von Regulierungen eingespart werden.
Viele der Ideen sind nicht neu, zum Teil werden kostensenkende Massnahmen seit Monaten und Jahren gefordert:
- Abbau überflüssiger Regulierungen für Gewerbe und Landwirtschaft (Statistiken, Bürokratie, Arbeitszeiterfassungs-Moloch)
- Administrative Vereinfachungen bei Abrechnungen AHV, BVG, MwSt für Unternehmen
- Abbau von Regulierungen im Zollverkehr, im Hoch- und Tiefbau
- Einführung des Einheitssatzes bei der Mehrwertsteuer
- Vereinfachung der Steuern
- Vereinheitlichung kommunaler und kantonaler Bauvorschriften
- Verzicht auf neue Regulierungen
- Übernahme des „one-in thwo-out“- Systems (Vorbild Grossbritannien) (im Gegenzug zu einer neuen Regulierung müssen zwei abgebaut werden)
- keine Konjunktur- und Subventionsprogramme für „notleidende“ Branchen.
Ein klares Ziel vor Augen
Bei allen Diskussionen im Nachgang zum Frankenschock gilt es den wichtigsten Faktor vor Augen zu behalten. Er hat mit der Nationalbank nichts zu tun: Der Zugang zum EU-Binnenmarkt ist von zentraler Wichtigkeit für unser Land. Das selbsteingebrockte Problem harrt der Lösung. Da sollten sich für einmal die politischen Parteien zusammenraufen.