Je näher der Abstimmungstermin rückt, desto aufgeregter „beweisen“ Befürworter und Gegner, dass sie Recht haben mit ihren Argumenten. Aus ihrer jeweiligen Sicht haben sie das, vielleicht. Doch was ist für die Schweiz als Ganzes sinnvoll? Für unser Land, das prosperierend, wohlhabend und glücklich ist? Der Versuch einer kurzen Analyse könnte da weiterhelfen.
Die Vergangenheit
Fragen wir uns, warum es der Schweiz gut geht. Von zwei Weltkriegen verschont, profitieren wir seit Generationen vom Frieden. Auf diesem soliden Fundament steht unser Schweizerhaus. Eigenverantwortung, Arbeitswillen, -disziplin und –frieden sorgten für eine sichere Armierung und Zusammenhalt der „Bausubstanz“. Stabile politische Verhältnisse garantierten ein verträgliches, ausgewogenes Klima. Die Tradition der offenen Türen hat uns seit 400 Jahren zu einem braingain (Talent- und Intelligenzzuwachs aus dem Ausland) verholfen. Diese Einwanderer leisteten – mit zum Teil revolutionären Ideen - einen wichtigen Beitrag, um den wirtschaftlichen Erfolg voranzutreiben.
Wenn im gegenwärtigen Abstimmungskampf Christian Levrat aber verkündet: „Die Sozialdemokraten haben die moderne Schweiz aufgebaut“, hat er wohl in der Schule nicht gut aufgepasst oder er fällt zurück in den Klassenkampf der Vergangenheit. Die Gründerväter unserer modernen Schweiz - nach dem Sonderbundskrieg - waren liberale, zukunftsorientierte, zupackende Männer (die Frauen mögen mir verzeihen. Sie durften ja weder stimmen, noch wählen, damals). Jene gehörten tatsächlich alle der FDP an, kaum zu glauben, gut 150 Jahre später. Erst 1943 zog die SP im Bundesrat ein.
Die Gegenwart
Fragen wir uns aber auch, warum unser Land heute (wieder einmal) unruhige Zeiten durchlebt. Pflegten früher viele unser Land als Sonderfall zu bezeichnen, realisieren wir, dass es in einer globalisierten Welt Sonderfälle je länger je schwieriger haben. Seit Mitte des letzten Jahrhunderts ist eine Strudelbewegung feststellbar, in die der bis dahin gemächlich dahingleitende „Schweizer-Fluss“ hineingezogen wird und sich das Wasser immer rascher um die eigene Achse dreht. Der Banquier Hans J. Bär hat 2004 in seinem Buch „Seid umschlungen, Millionen“ am Schluss mit dem Kapitel „Im Zeitalter der Gier“ trefflich und kompetent umschrieben, was in der Wirtschaft passiert ist. „Begünstigt durch die Club-Atmosphäre in den Verwaltungsräten, herrscht ein allgemeines Enrichissez-vous mit dem Ergebnis, dass in Einzelfällen die Differenz zwischen einem Arbeiterlohn und den höchsten Bezügen bei einem Faktor 1000 liegt. Dies ist natürlich sehr ungesund…“ Und weiter: „Dass bei einem Versagen des Managements die Leute auf der Strasse stehen, während sich die Unternehmensspitzen quietschvergnügt und mit randvollem Geldbeutel zur Ruhe setzen können, ist eine Verhöhnung aller gesellschaftlichen Prinzipien und eine Anstiftung zum Klassenkampf von oben.“ Das ist tatsächlich passiert.
Zehn Jahre, nach dem dieses Buch geschrieben worden ist, reagieren politische Kräfte (JUSO, SP, Grüne und Gewerkschaften) mit ihrer 1:12-Initiative auf die oben beschriebene, unappetitliche Situation, die sich seither noch verstärkt hat. Nicht zu Unrecht wird in Erinnerung gerufen, dass wir einst aufgestanden sind gegen die Privilegien des Adels. Das Managerkartell, das sich selber die Löhne festlegt – die neue Adelskaste, gegen die angetreten werden muss? Dieser Pauschalangriff kann deshalb niemanden überraschen. Die Argumente: Die Initiative schafft gerechte Löhne und stoppt Abzocker. Die Bundesverfassung soll entsprechend geändert werden. Untermalt wird die Kampagne durch das Buch: Lohnverteilung und 1:12-Initiative – Gerechtigkeit und Demokratie auf dem Prüfstand.
Gerechtigkeit und Demokratie
Gerechtigkeit zu beschwören ist ein griffiges Argument, vergleichbar mit jenem, das der Schweizer Bevölkerung Freiheit und Sicherheit verspricht. Für Ersteres kämpfen jetzt also die aufgebrachten Rot/Grünen, für Letzteres seit je die wackeren Konservativen. Mit solchen Schlagwörtern aus der Küche der Politkampagnen-Inszenierern lassen sich Stimmen gewinnen, nur – die Versprechungen stehen auf wackligen Füssen, sie sind nicht mehr als clevere Beeinflussungsparolen.
Unsere Demokratie ist ein besonders kostbares Element. Über Jahrhunderte gewachsen, hat sie im grossen Ganzen den meisten oberflächlichen Veränderungsgelüsten hektischer, politischer Akteure widerstanden. Was nicht heisst, dass das Kernproblem der „Abzocker“ nicht virulent sei. Doch wer damit argumentiert, dass die Einkommensschere noch nie so weit auseinandergeklafft wäre, wie heute, irrt. In früheren Jahrhunderten war das alles noch viel krasser.
Ärgernis und Argumente
Vasella und Co. (Sie wissen, was gemeint ist), haben mit ihren ungerechtfertigten Bezügen der Demokratie in der Schweiz zweifellos geschadet, auch wenn diese Manager es nicht einsehen können. Statt über die Neider zu lächeln, täten diese Menschen gut daran, ihre Person nicht als ökonomische Ausnahmeerscheinung zu empfinden, denn sie ignorieren, dass die Wirtschaft Teil der Gesellschaft ist und so ein Ganzes bildet und dass die wirtschaftlichen Sünden dort, hier nicht ohne Folgen bleiben. Somit sind die wenigen übertreibenden Spitzenverdiener, die eine ganze Branche in Misskredit bringen, die eigentlichen Urheber der 1:12-Initiative. Diese absurde Situation wird sogar von der wirtschaftsfreundlichen NZZ unter dem Titel „Bitte nicht schon wieder!“ gebrandmarkt. Das Verhalten des langjährigen Novartis-Chefs, der sich seinen Abgang mit Beraterhonoraren vergoldet, ist gemeint und „ist dessen Comeback auf der Novartis-Lohnliste für die Urheber der Initiative eine Steilvorlage.“
Ungeachtet des Fehlverhaltens Einzelner ruft die Initiative nach genauen Überlegungen, bevor der Stimmzettel ausgefüllt wird. Viele der medial verbreiteten Argumente für ein Ja halten genauer Überprüfung nicht stand. Wie detaillierte Untersuchungen zeigen, ist etwa die Behauptung, die Einkommens-Schere hätte sich in letzter Zeit massiv geöffnet, schlicht falsch. Der relevante „Gini-Koeffizient“ ist seit 15 Jahren nicht gestiegen. Und, was die gerechte Verteilung der Arbeitseinkommen betrifft, liegt die Schweiz (zusammen mit Schweden und Norwegen) nach wie vor klar an der Spitze („avenir spezial“ vom Sommer 2013). Alarmismus darf unsere Demokratie nicht gefährden.
Meinungen und Hoffnungen
Ob es tatsächlich eine Intervention des Staates braucht, ist umstritten. Gemäss einer jährlich in Auftrag gegebenen repräsentativen Demoscope-Umfrage, sind heute (in der „Nach-Minder-Zeit“) weniger als die Hälfte der Befragten der Meinung, dass der Staat eingreifen sollte. Früher waren dies signifikant mehr (zwischen 58-64%). Zwar wird eine leistungsabhängige Vergütung von 79% der Befragten als Ansporn für Mitarbeiter aller Stufen betrachtet. Jedoch würde nur eine Minderheit für sich selbst ein variables System befürworten. Auch trauen viele offenbar der korrekten Messbarkeit nicht so ganz. Wenn aber ja zum Bonus, dann heisst eine Mehrheit auch einen Malus gut. „Wenn schon – dann schon in beide Richtungen“, scheint man sich zu sagen.
Spekulationen und Utopien
Bei Annahme der Initiative werden weder gerechtere Löhne geschaffen, noch die Abzocker gestoppt. Nüchtern betrachtet, sind Handlungsspielraum und kreative Alternativlösungen der Unternehmen viel zu gross. Das suggerierte Ziel würde verfehlt. Aus den gleichen Gründen dürfte es auch nicht zu Absatzbewegungen der grossen Player ins Ausland kommen und entsprechend Arbeitsplätze vernichtet werden. Ob dagegen unser Land keine Manager braucht, die mehr als sechs Millionen pro Jahr verdienen, diese These Marco Kistlers (einer der Initianten der Initiative), bleibt offen. Da bewegen wir uns doch, ob es uns lieb ist oder nicht, im Feld der globalen Zusammenhänge. Wo Kistler aber Recht hat: „Die Initiative war eine Antwort auf die Exzesse der letzten Jahre“ (TA Magazin 30/2013).
Wie erwähnt, ist das Argument, dass unsere Grossbanken bei Annahme der Initiative ins Ausland abwandern würden, ein gewagtes. Wenn ein Finanzprofessor argumentiert, dass sie dann die Staatsgarantie verlören, ist das zwar nachvollziehbar. Doch warum kennen wir die Staatsgarantie? Ein Zusammenbruch der UBS oder CS wäre für deren Kunden in unserem Land ein Debakel sondergleichen. Und zudem: hier geht es ja nicht nur um die Finanzbranche.
Diese Initiative ist ein ideologisches Experiment, das einem schweren Eingriff in ein bewährtes Gefüge gleichkommt. Die Gestaltung der schweizerischen Wirtschaft darf nicht nach extrempolitischen, ideologischen Vorstellungen umgelenkt werden. (Das Gleiche gilt für die Armee, was auch die letzte Abstimmung im September 2013 wieder gezeigt hat).
Die Zukunft
Das Erfolgsmodell der Schweiz beruht zu einem grossen Teil auch auf Meriten aus der Vergangenheit. Eine relativ kleine Clique von erfolgreichen Managern ist heute drauf und dran, diesen Goodwill, diese kostbare Substanz zu gefährden, ohne dass sie es wahrhaben will.
Der flexible Arbeitsmarkt und die zurückhaltenden staatlichen Regulierungseingriffe sind – in Kombination mit den eingangs erwähnten Qualitäten schweizerischer Arbeitnehmender – Musterbeispiele, wie Nationen zu Wohlstand kommen. Weltweit werden darüber Bücher geschrieben und Vorträge gehalten. Wird die Schweiz auch ab und zu als lobenswertes Beispiel dargestellt und wohl ein bisschen benieden. Konklusion: Sägen wir nicht am Ast, auf dem wir sitzen. Auch wenn das ganz anders, „gerechter“ eben, daherkommt.