Reformen sind überfällig. Natürlich sehen das jene Kräfte, die vom gegenwärtigen Stillstand der Schweiz profitieren, anders. Ihr Blick bleibt in der Vergangenheit haften, sie tun alles, um den Status quo zu zementieren.
Ganz anders betrachten es jene Kreise, die ihren Fokus auf die Zukunft richten und nach neuen Möglichkeiten für unser Land forschen, um auch in 20 Jahren noch über gute Voraussetzungen für Wohlstand und Zufriedenheit zu verfügen. Eine Übersicht der wichtigsten politischen Baustellen:
– Schweiz-EU-Verhältnis
– Nachhaltigkeitsgebot, Klimawandel, Energie
– Landwirtschaftspolitik, Landschaftsschutz
– Transparenzforderung (Lobbying und Whistleblower)
– Föderalismusumbau (Ständerat, Ständemehr, Kantönligeist, Kirchturmpolitik)
– Diverse politische Reformprojekte: Renten, Gesundheit etc.
– Und neuerdings: Neutralitäts-Debatte
Zukunft des Landes
Seit vielen Jahren schreibe ich regelmässig zum Thema Reformresistenz der Schweiz. Ebenso lange vermisse ich in Bern den Willen, sich mit der Zukunft des Landes zu beschäftigen. Regelmässig stehen eidgenössische Wahlen an, bei denen es nicht opportun ist, sich unnötig zu exponieren und zum Beispiel gegen die Parolen der SVP anzutreten, welche die Gestaltung der Zukunft der Schweiz seit Jahrzehnten rückwärtsblickend in die Vergangenheit fokussiert. Als Beispiel dient die Landwirtschaft des letzten Jahrhunderts. Im Herbst 2023 stehen bereits wieder eidgenössische Gesamterneuerungswahlen an: Das Hauptaugenmerk vieler Politikerinnen und Politiker in den eidgenössischen Räten gilt jetzt der persönlichen Wiederwahl.
Die neuen Prioritäten
Als Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine haben sich die Prioritäten der Reform-Pendenzenliste geändert. Als wäre diese nicht schon genug lang, überlagern nun aktuelle Fragen zur schweizerischen Neutralität, zum Thema Waffenexport und -lieferungen, zur Wichtigkeit neuer Kooperationen mit Nato und EU die Agenda. Anders als bei früheren Reformdiskussionen, die sich erfahrungsgemäss ohne sichtbare Fortschritte über Jahre hingezogen haben, soll jetzt rasch entschieden werden. Diese neue Herausforderung ist bei der föderalen Struktur unseres Landes eigentlich undenkbar.
Kooperationen mit europäischen Partnern
Selbstbestimmungsparolen, um Sicherheit und Wohlstand in der Schweiz zu bewahren, fallen aus der Zeit. Ein Krieg, wie er seit über einem Jahr in Europa tobt, war im 21. Jahrhundert kaum mehr denkbar. Wir haben uns getäuscht, nun gilt es die Konsequenzen zu ziehen: Gegen einen hinterhältigen Überfall der Marke Putin sind die Rezepte der SVP die falschen. Die Neutralität der Schweiz war auch in der Vergangenheit nie jene, die uns jetzt als oberstes Gebot vorgegaukelt wird. Sie war immer situativ – verantwortungsvoll, aber nicht absolut – zum Wohl des Landes ausgerichtet.
Die Diskussion darüber, ob ausländische Nationen das in der Schweiz gekaufte Kriegsmaterial weiterliefern dürfen, ist unzeitgemäss. Wenn unser Land von Handelspartnern ernst genommen werden soll, ist diese alte Klausel zu ersetzen. Wer in der Schweiz etwas kauft, soll darüber verfügen können, insbesondere in Zeiten des Ukrainekrieges.
Wir müssen unsere Beziehungen zu befreundeten Ländern der Nato und der EU stärken. In diesem Sinn sagte die Schweizer Sicherheitsberaterin Pälvi Pulli schon im Sommer 2022: «Solange sich die Ukraine mutig gegen den Aggressor wehrt, hat sie Anspruch auf unsere Unterstützung und nicht auf Bevormundung» (NZZ am Sonntag). Die militärische Zusammenarbeit mit der NATO sei wichtig, unterstreicht sie. Zu ergänzen ist an dieser Stelle, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der EU auf Basis gefestigter Verträge ebenso vordringlich ist.
Update Schweiz
Seit Jahren fordern viele engagierte Beobachterinnen und Beobachter eine grundlegende Reform der politischen Strukturen der Schweiz. Unterstützung kommt jetzt in Form von «Update Schweiz – Volksinitiative für eine zeitgemässe Bundesverfassung». Mit ihrer Idee einer Totalrevision der Bundesverfassung – diese sei veraltet – verweisen die Initianten auf die Tatsache, dass seit 1874 nur ein einziges Mal, nämlich 1999, eine minimale Aufdatierung erfolgt ist. Aus Rücksicht auf konservative Kreise wurde damals auf substanzielle inhaltliche Neuerungen verzichtet.
Hinter der Idee stehen Michel Huissoud, ehemaliger Direktor der Eidgenössischen Finanzkontrolle, und Daniel Graf, Stiftungsrat der Stiftung für direkte Demokratie und «Demokratieaktivist» (Neue Zürcher Zeitung). Huissoud begründet sein Engagement damit, dass ihm seine Jahre in der Bundesverwaltung die Augen geöffnet hätten. Immer wieder habe er über Mängel in der Verwaltung berichten müssen, etwa bei der Digitalisierung oder bei der Kompetenzverteilung. Graf berichtet, dass er regelmässig Nachrichten von Leuten erhalten habe, die etwas bewegen wollten, aber keine Mittel für eine Volksinitiative zur Verfügung hatten. Beginnen wollen die beiden ihre Aktion am 12. September 2023, dem 175. Jahrestag der Inkraftsetzung der ersten Bundesverfassung.
Brennpunkt Rentenreform
Das Beispiel Rentenreform eignet sich bestens, um zu schildern, wie Reformen in der Schweiz geplant, diskutiert, ausgearbeitet und bekämpft werden. Am 25. September 2022 wurde, nach 20 Jahren Diskussion, die Volksabstimmung über die staatliche Vorsorge (Erhöhung des Rentenalters der Frauen von 64 auf 65 Jahre) mit 50,5 Prozent hauchdünn angenommen.
Jetzt befinden wir uns inmitten der Diskussionen über die Reform der beruflichen Vorsorge, die bekanntlich helfen soll, den gewohnten Lebensstandard zu sichern.
Im März 2023 einigten sich National- und Ständerat nach 18-monatiger Diskussion über die Eckpfeiler der Vorlage zur Revision der beruflichen Vorsorge (BVG). Dabei ging es zum einen um die Frage, auf welchen Teil des Lohnes zwingend Pensionskassenbeiträge für das Alter angespart werden müssen, und zum anderen um die Senkung des Umwandlungssatzes von 6,8 auf 6 Prozent. Bereits haben Gewerbler und Bauern verlauten lassen, dass sie mit den vorgeschlagenen Änderungen nicht einverstanden sind.
Dieses Beispiel aus vielen anderen lässt erahnen, warum wir uns in der Schweiz so schwer tun mit strukturellen Reformen. Jede Anspruchspartei kämpft für ihre (egoistische) Sicht der Dinge, was an sich verständlich und normal ist. Am Ende der politischen Diskussionen gibt leider keine Seite nach, um einen Kompromissvorschlag zu ermöglichen. Die Verlierer drohen noch am selben Tag mit dem Referendum. Das bedeutet zwei Jahre Verzögerung, bevor die gleichen Spielchen wieder von vorne anfangen.
Das ist schlechte Politik. Mit der sturen Ablehnung eines Verhandlungsresultates – «lieber keine Lösung, als eine, die uns nicht ganz passt» – signalisieren die Betroffenen, dass sie nicht verstanden haben, dass erfolgreiche Politik letzten Endes davon abhängt, dass die Beteiligten sich zu einem gut schweizerischen Kompromiss aufraffen. Schade.