„Das WEF Davos wird sich auch 2020, im 50. Jubiläumsjahr, nicht ausruhen. Wir können die wichtigsten Herausforderungen nicht lösen, wenn die Zivilgesellschaft und die Unternehmen und Staaten nicht an einem Strang ziehen und miteinander kommunizieren“, beteuerte WEF-Präsident Borge Brende anlässlich seiner Schlussrede. Schöne Worte – wie immer am WEF – denen entsprechende Taten in der Vergangenheit selten folgten.
„Leute reden nur und tun nichts“
Der Kontrast zwischen den offiziellen Schlussworten am WEF 2019 und dem illusionslosen Kommentar jenes 16-jährigen Mädchens aus Schweden, das zuvor mit seiner monoton vorgetragenen Botschaft die WEF-Elite zu erreichen versucht hatte, hätte nicht grösser sein können. Greta Thunberg, die Klimaschutzaktivistin, hatte für Furore gesorgt. „Ich will, dass ihr handelt, als wenn euer Haus brennt, denn das tut es“, hatte sie zuvor den WEF Managern und Spitzenpolitikern zugerufen. Und sie doppelte nach, die Klimakrise zu lösen, sei die grösste und komplexeste Herausforderung, der die Menschheit je gegenüber gestanden sei.
„Ich will, dass ihr in Panik geratet!“
Greta, wer?
Wohl den meisten Leserinnen und Lesern dieses Berichts sagte bis vor vier Wochen der Name Greta Thunberg wenig bis gar nichts. Am 3. Januar 2003 in Schweden geboren begann sich das Mädchen 2011 für die von Menschen verursachte Klimaerwärmung und deren Bekämpfung zu interessieren. Ihr Engagement als Klimaschutzaktivistin wirkte wie der Stein, den man ins Wasser wirft – er produziert kreisförmige Wellen, die sich immer weiter ausdehnen. Ihr Auftritt ist der einer radikalen Klimapolitikerin und ihre Tausenden von Nachahmerinnen und Nachahmer halten es ebenso.
Am ersten Schultag im August 2018 nach den Sommerferien stellte sie sich mutterseelenallein vor den Schwedischen Reichstag in Stockholm. Sehr zum Missfallen ihrer Eltern und Lehrer schwänzte sie die Schule, bewusst und berechnend ihr Plakat hochhaltend: „Schulstreik für das Klima“. Ähnlich eines Schwelbrands dehnte sich in der Folge der „Brandherd“ über Schweden aus, später auch in Frankreich, Finnland, Dänemark, Belgien und Deutschland. Man wolle sich die Zukunft nicht klauen lassen, hiess der Tenor.
Schon im Dezember 2018 hatte Greta Thunberg eine Rede vor dem Plenarsaal der Uno-Klimakonferenz in Katowice, Polen gehalten. Via Internet verbreitete sich dieser Appell weltweit. Um am WEF in Davos im Januar 2019 auftreten zu können, reiste sie im Zug an. Nicht per Flugzeug. Schon das eine klare Botschaft. Auch dass sie erst am Freitagmorgen – als schon viele Teilnehmenden, insbesondere jene der Erdöl- und Gasindustrie, abgereist waren – zu Worte kam, erstaunt wenig. Immerhin hatte sie Gelegenheit, mit Klaus Schwab, dem Forumsgründer zu sprechen und ihm für 2020 den Fokus von „Davos“ auf Klima, Umwelt, Nachhaltigkeit zu empfehlen. Wir werden ja sehen.
Gretas Klartext
Nicht mehr und nicht weniger als Klimaversagen unterstellt Thunberg den Politikern. Diese hätten die Schwere der Klimakrise noch immer nicht verstanden. Und sie teilte weiter aus: Politiker verhielten sich wie kleine Kinder und total unverantwortlich. Ihr Aufruf gilt deshalb der jungen Generation, ihre Zukunft selbst in die eigenen Hände zu nehmen und dafür zu sorgen, gehört zu werden. Ihre Forderung gilt einer massiven Beschleunigung des Klimaschutzes. Schweden als reiches Land hätte die Emissionen schneller zu senken als andere Staaten. (Über die Schweiz hat sie sich nicht geäussert…). Greta vertritt die Meinung, dass wir einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt sind, der grössten Krise, in der sich die Menschheit je befunden hat.
Klar äussert sie sich auch zum Vorwurf des Streikes. Ihre Klimaschutzaktionen wären wichtiger als in die Schule zu gehen. Für alle jene in der Schweiz, die längst den Stab über diesem Mädchen gebrochen haben („Streik geht gar nicht!“): Fast auf der ganzen Welt gilt das Streikrecht bei Erwachsenen, und das während der Arbeitszeit. Den Jugendlichen zu raten, am Wochenende zu streiken, ist naiv. Das wäre dann eine Demo, die unwirksamere Form einer Kundgebung. Auch Lehrer, die streikende Schüler mit der schlechtest möglichen Note in der Matheprüfung (unabhängig vom erzielten Resultat) „bestrafen“, sollten das nochmals überdenken. Beides hat nichts miteinander zu tun.
Die Jugend wachrütteln, auch in der Schweiz
Bereits spricht man vom globalen Greta-Effekt. Tatsächlich hat da ein Mädchen geschafft, was man nicht für möglich hielt: Die Jungend wird politisiert. An Schulen und zuhause wird debattiert, darüber, wie wir uns verhalten müssen, um die Klimaziele zu erreichen. Ihre Videos werden tausendfach geteilt. Nochmals: Wie wir uns verhalten müssen – nicht was wir endlos besprechen müssen. Gemäss NZZ streikten im Dezember 20‘000 Schüler und die Bewegung #FridaysForFuture wächst und wächst. Klimakrise lautet ihr Weckruf – nicht Klimawandel, wie ältere Generationen achselzuckend meinen. Tatsächlich haben Gretas Fragen und Forderungen das Zeug, ganze Familien durcheinander zu bringen. Sie zwingen uns Erwachsene, einzugestehen, zu viel zu reden statt zu handeln. Ob wir das gehört haben? Ohne Radikalkur wird das nicht gehen.
Tausende Jugendliche gingen am Freitag, 18. Januar in 15 Städten der Schweiz auf die Strasse. Der Funke ist übergesprungen. Jonas Kampus heisst der Begründer des ersten Klima-Chats in der Schweiz. Damit hat sich innert weniger Wochen eine Bewegung herangebildet, die immer lauter ihre Forderungen an die Politik stellt. Damit erleben auch wir eine neue Art Grass-Root-Bewegung“ (analog zu „Operation Libero“), einen Protest von unten, auch diesmal von der Jugend der Zivilbevölkerung ausgehend.
Das Asperger-Syndrom prägt Greta Thunbergs Leben
Greta Thunbergs Verhalten, Reaktionen und öffentliche Auftritte müssen im Zusammenhang mit dem bei ihr 2014 diagnostizierten, nicht heilbaren Asperger-Syndrom, einer Variante des Autismus gesehen werden. Solche Menschen sind von normaler, tendenziell hoher Intelligenz; ihr Kommunikationsverhalten wirkt jedoch oft merkwürdig. Zu ihren Stärken zählt eine hohe Selbstbeobachtungskraft; sie sind oft fixiert oder fokussiert auf ein für sie wichtiges Thema und dabei sehr direkt wirkend.
Bereits versuchen wendige Politiker, diese Situation in unzulässiger Weise falsch zu interpretieren. Sie unterstellen diesem Mädchen, sich von Lobbys oder NGOs missbrauchen zu lassen. Diese – meist ältere Männer – haben gar nichts begriffen. Wer solche falschen Vorurteile oder parteipolitischen Weisheiten medial verbreitet täte besser daran, für einmal zu schweigen.
Und wir Erwachsenen?
Was hat die ganze Aufregung mit uns zu tun? Wir dürfen nicht achselzuckend zur Tagesordnung übergehen. Wir – die Gesellschaft – sind gemeint, nicht nur die Jugend, nicht nur die Politiker. Wir können heute partizipieren. Nicht nur wir sollten. Persönlich weniger Fliegen, weniger Treibstoff verbrauchen, Kreuzfahrten skeptischer beurteilen, Heizöl sparen durch Verhaltensänderung, unsere Essvgewohnheiten modifizieren: Die Liste lässt sich verlängern, wenn wir einsehen, dass wir damit unseren Kindern einen Dienst erweisen und das Ganze als sportliche Leistung einstufen. „Leute reden nur und tun nichts!“ geht gar nicht mehr.