Auch vier Jahre nach Ausbruch der weltweiten Finanzkrise in den USA (2007), die in der Folge die Rettung der UBS durch die Schweizer Steuerzahler nötig machte, stellen wir einigermassen fassungslos fest, dass erneut grosses Ungemach aus Richtung Finanzwelt droht. Die gefährlichen Pleiten ganzer Länder wie Griechenland destabilisieren Europa und den Euro (siehe auch durchschaut! Nr. 25). Nachdem die grossen Bankhäuser jahrelang marode Staatspapiere in grossem Stil aufgekauft und dafür dankbar horrende Zinsen kassiert haben (die ihrerseits den Managern hohe Boni sicherten), drohen diesen Banken angesichts eines Schuldenschnitts erneut Milliardenverluste. Schon wird wieder der Staat als Retter in höchster Not angefordert, das Karussell wurde im Oktober 2011 mit der Pleite der Dexia-Bank angeworfen. Das grösste Ärgernis: Der Mangel an Bankenkapital („Rekapitalisierung“), auch 4 Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise. Es ist ein unverzeihlicher Skandal, dass sich die Politiker von den Finanzlobbyisten an der Nase herum führen liessen. Josef Ackermann (Deutsche Bank) ist definitiv nicht der richtige „Berater“ für Angela Merkel. Jetzt steht Europa buchstäblich am Scheideweg.
Das gescheiterte Modell des Marktfundamentalismus hat in eine akute Vertrauenskrise gegenüber der vormals hochgejubelten Theorienbildung umgeschlagen. Jener Theorie, die besagte, der Finanzmarkt hätte alles im Griff. Richard Sennet (University New York und London School of Economics) meint denn auch illusionslos: «Sie wissen nicht, was sie tun»1, (gemeint sind die zentralen Figuren der Finanzindustrie). «Titanic» namens Finanzwirtschaft.
Nun kann argumentiert werden, diese Staatsschuldenkrisen wären primär den betroffenen Ländern, deren Spitzenpolitikern anzulasten, die verantwortlich wären für das sorglose, ja fahrlässige «Auf-Pump-Leben» während Jahrzehnten. Das trifft zwar zu, ist jedoch nur die Hälfte des Problems. Wären diese Staatsbonds nicht ausgerechnet von den grossen Banken gezeichnet worden, ja, hätten sich dessen Manager wie vernünftige Menschen verhalten, wäre der Hahn des Geldflusses längst zugedreht worden. Ich jedenfalls kenne keinen Menschen in meiner Umgebung, der sich gebrüstet hätte, dank hoher Zinsen der griechischen, staatlichen Schuldverschreibungen zwischen 6 und 10% Rendite erwirtschaften zu können.
Jetzt stehen Europa und der Euro wegen dieser Schuldenkrise vor einer gewaltigen Zerreissprobe. Das kann in der Schweiz nur jene EU-Skeptiker freuen, die nicht in der Lage sind, über ihre Nasenspitze hinweg zu sehen. Die Geschichte Europas ist zu wichtig, um sie mit kurzfristigem oder populistischem Danken zu gefährden. Wer triumphiert: «Die EU ist eine Fehlkonstruktion, schlimmer noch, sie hat einen Geburtsfehler», will verführen – oder hat die Geschichtslektion nie gelernt. Jetzt stehen wir allerdings an einer kritischen Wegkreuzung. Soll ein positives Europa-Kapitel angefügt werden, ist die Krise als Chance zu packen. Jede Krise kann den Fortschritt beflügeln, sofern die Führungsaufgaben angepackt statt hinausgeschoben werden. Dabei ist die nunmehr während über 60 Jahren funktionierende Friedensordnung in Europa als die grösste Errungenschaft des Alten Kontinents als Basis der Strategieentwicklung in Erinnerung zu behalten. Die unglaublich positive Entwicklung in diesem Zeitraum in Richtung Frieden ist die Aktivseite der Bilanz, die gegenüber der aktuellen (finanziellen) Passivseite einen gewaltigen Überschuss ausweist. Sollten die Märkte dieses Projekt jetzt ernsthaft gefährden, wäre es höchste Zeit für einschneidende staatliche Regulierungen. Europa im Griff der Finanzmärkte – ein bedrohliches Szenario.
DIE ZEIT formuliert das trefflich: «Wenn heute von Europa die Rede ist, dann nicht mehr im Zusammenhang von Frieden und Versöhnung, von Freiheit und Emanzipation, sondern vor allem mit Begriffen der modernen Finanzmarktökonomie wie Rettungsschirm, Stabilitätsmechanismus, Umschuldung und Staatsanleihen. Europa ist von einem Kontinent der Werte und Prinzipien zu einem schlichten Handelsplatz von Kursen und Preisen geworden. Die Visionen europäischer Staatsmänner, Europa nach dem Schrecken zweier Weltkriege zu einem Kontinent dauerhaften Friedens und Wohlstands zu entwickeln, ist den professionellen Beobachtern kaum noch eine Reminiszenz wert.»2
Wie weiter? Paul Krugman rät in der New York Times3 den europäischen Spitzepolitikern, endlich das tödliche Prinzip des «mehr desselben» zu begraben. Mehr desselben war schon für Watzlawick der sicherste Weg, Krisen zu verewigen, statt sie zu beenden. Immer mehr, immer neue Kredite, was ist dabei gewonnen? Man drückt sich um Entscheidungen. Auch der harte Sparkurs, der aus der Krise führen soll, diese Strategie kann nicht funktionieren, denn sie würgt die wirtschaftliche Entwicklung (und die entsprechenden Steuereinnahmen) regelrecht ab in Richtung Rezession. Eine grosse Depression wie die im letzten Jahrhundert wäre wohl auch das Ende der grossen europäischen Idee.
Gescheite Analysen, wie es zum Desaster kommen konnte, bringen uns nicht weiter. Sie sind müssig. Es geht darum, von mehreren unangenehmen Lösungen diejenige (oder diejenigen) zu wählen, die ein Ende mit Schrecken ermöglichen. Nass werden alle beim Bad. Die Einheitswährung Euro war ein romantisches Projekt, das zu Verzerrungen führen musste, die jetzt radikal bereinigt werden müssen. Jetzt braucht es «Blut, Schweiss und Tränen». Schon immer hatte ja zum Beispiel das EU-Mitglied Grossbritannien seine eigene Währung. Die EU muss sich endlich mit klaren Beschlüssen auf die Zukunft einstellen. Die Kosten eines Schuldenschnitts werden hoch sein. Doch demokratische Tradition und eine starke Zivilgesellschaft sind die besten Voraussetzungen, ein nachhaltiges Europa zu festigen. Dabei sind einerseits die europäischen, liberalen Werte und die staatlichen Leitplanken, andererseits die nationale Souveränität versus Brüssel neu auszutarieren. Kann Brüssel unnötigen Ballast abwerfen (Rückführung von Entscheiden in die Mitgliedstaaten) um gleichzeitig für überlebensnotwendige Beschlüsse zusätzliche Zuständigkeiten einzufordern? Es braucht beides.
Wenn Bruno S. Frey in er NZZ schreibt, ein Europa ohne Euro und EU wäre nicht das Ende Europas, ist das wohl etwas überhebliche, professorale und zudem gefährliche Logik. Dass sich die Spitzenpolitiker der EU endlich von Feuerwehrübungen befreien und eine flexiblere EU andenken sollten, das allerdings ist überfällig. Wer übermässig an Gewicht zulegt, braucht dann und wann neue Kleider. Wer zu rasch wächst, braucht einen neuen Anzug. Der Anzug für die EU ist zu klein geworden.
Das junge Phänomen der Occupy-Leute (Occupy Wall Street etc.) erinnert daran, dass das Volk weltweit die Nase voll hat von der Finanzindustrie. Diese muss von der Politik von Grund auf erneuert werden, in eine «die der Gesamtwirtschaft dient und sich nicht selbst bedient»4. Dass diese Finanzhasardeure nicht Willens sind, an ihrem Kasinogehaben etwas zu ändern, beweist die nun seit bald 5 Jahren andauernde Finanzkrise. Nach wie vor erachten sie es als selbstverständlich, dass sie die Gewinne einstecken während die Staaten (der Steuerzahler) für die Verluste aufzukommen haben. Wahrlich ein Irrsinn!
Realisieren die Zivilgesellschaften überhaupt, was abläuft? «Relevante Marktakteure, vor allem manche Hedgefonds, haben darauf gesetzt, dass der Euro zerbricht», sagt Joschka Fischer im Gespräch mit der ZEIT.5
Was Marx vor mehr als 150 Jahren voraussagte, nämlich, dass die kapitalistische Infrastruktur die staatliche Superstruktur in Beschlag nehmen werde, wird täglich mehr zur brutalen Tatsache. Die grosse Verliererin ist die Demokratie. Es scheint, als würde verkannt: die demokratischen Grundsätze und Institutionen werden laufend ausgehebelt. Das könnte sich eines Tages rächen.
Es steht zu viel auf dem Spiel. Der Euro, die Zukunft der EU, ja der Gesundheitszustand der gesamten Weltwirtschaft. Die Schweiz ist mitten drin.
1 NZZFOLIO 11/20112 DIE ZEIT Nr. 38 vom 15. September 2011
3 «Euro Zone Death Trip», The New York Times, 3, October 2011
4 DIE ZEIT Nr. 43 vom 20. Oktober 2011
5 DIE ZEIT Nr. 46 vom 10. November 2011