Moment mal
In Zeiten von Fake-News und substanzlosem GeTwitter lohnt sich ein kurzer Marschhalt, damit uns all die neuesten Meldungen um KI, die uns Menschen überflügeln wird oder freundliche Roboter, die unser Frühstück ans Bett bringen werden, nicht um den Verstand bringen. Treten wir einen Schritt zurück und inventarisieren wir, was wir bisher mitbekommen haben. Wohl die wichtigste Erkenntnis auf diesem so spannenden und gleichzeitig fremden Gebiet dürfte die persönliche Einsicht sein, dass die Zukunft nicht voraussehbar ist und dass es bei der rasanten Entwicklung einer umfassenden KI Quantensprünge der Innovationen und neue Ansätze geben wird, die wir uns heute noch gar nicht denken können. Wir wissen eben gar nicht, was wir nicht wissen. Neu denken zu lernen, darin können wir uns üben, es braucht dazu nicht einmal ein notebook. Doch dabei sollten wir wohl Abschied nehmen von der gewohnten, linearen Extrapolation bestehender Trends, es dürfte chaotischer zugehen.
Der nächste Schritt der Evolution
Schon der Einstieg in die Materie ist irgendwie verwirrlich. Ein zwanzigjähriger Student führt uns zum ersten Schritt des neuen Wissens. Sam Ginn’s Tätigkeitsfeld in Stanford ist die KI. Er arbeitet gerade an einem Code, der es Computern ermöglichen wird, die menschliche Sprache zu verstehen. „Je mehr Gespräche der Computer versteht, desto besser versteht er sie, die Aussichten sind schlicht atemberaubend“, verrät das Multitalent im Gespräch mit der NZZ im März 2018. Der Code dieses interaktiven Sprachenlernens kombiniert rechenstarke Lernfähigkeit mit grossen Datenmengen, entsprechende Hardware gibt es erst seit 2012. Wenn Ginn versucht, dem Laien sein Forschungsfeld zu erklären, sprüht er vor Begeisterung. Anders als im Departement Linguistik dieser Universität, arbeiten die Verfasser von Codes viel pragmatischer. “Wir programmieren selbstlernende Algorithmen, die wir mit Daten füttern – wenn der Algorithmus in der Praxis etwas taugt, erlaubt dies Rückschlüsse auf eine Theorie der menschlichen Sprache.“
Simulation von Denkprozessen
Der Grieche Costas Bekas, Leiter des 100-köpfigen Labors für KI der IBM in Zürich, wurde 1997 als Student dazu motiviert, bei IBM zu arbeiten. Den entscheidenden Kick dazu gab jenes Computer-System, das den Schachweltmeister Garri Kasparow schlug und damit die Welt verblüffte. Bekas beantwortet die Frage, was denn KI eigentlich sei: „Statistik, nichts anderes. Dank immer schnelleren Computern können wir heute riesige Datenmengen interpretieren und Voraussagen machen. Wir füttern Maschinen mit Beispielen – und trainieren sie damit“ (SonntagsZeitung).
Ärzte werden mit KI sehr viel schnellere und genauere Diagnosen machen können. Oder, ein ganz anderes Gebiet: Das Team von Deep Search hat ein System gebaut, das exakt voraussagen kann, wie bestimmte chemische Substanzen aufeinander reagieren. Chemiker benötigen heute 20 bis 30 Jahre Studium, um dasselbe zu tun. Besonders wertvoll beurteilt Costas Bekas die Zukunftsaussichten von Batterien, an deren Entwicklung sie arbeiten; diese werden zehnmal effizienter als heutige und in zehn Minuten wieder aufgeladen sein.
Projekt Mindfire
Im Mai 2018 startete das Projekt Mindfire, das „die 100 klügsten Köpfte“ umfasste (so die Initianten), um die Schweiz im globalen Rennen zum „Epizentrum für KI“ voranzubringen. Stellvertretend gab Rolf Pfeifer, em. Professor für Computerwissenschaften am Institut für Informatik der Universität Zürich, im Januar 2018 im TA ein Interview zur „Mindfire-Mission“. Die Stiftung möchte nicht nur die KI erforschen, sondern sie gleichzeitig zum Nutzen der Gesellschaft einsetzen.
Für Pfeifer ist die Diskussion um KI immer noch so etwas wie ein Hype. Er erinnert daran, dass sich ein Grossteil der Forschung auf die Entwicklung von Algorithmen konzentriert. Diesen algorithmischen Ansatz „Intelligenz“ zu nennen ist zwar nicht falsch, jedoch sollte man sich bewusst sein, dass es wirklich nur Algorithmen sind. So gesehen scheint die Furcht vor der KI unbegründet – sie hat die Leistung des menschlichen Gehirns bei weitem noch nicht erreicht.
Euphorie oder Depression?
Wohin führt uns die KI, was bleibt dem Menschen als Entscheidungsträger, über- oder unterschätzen wir die KI-Entwicklung? Experten sind sich – nicht überraschend – uneinig. Einige ihrer Ansichten stehen nachfolgend für viele andere, die aus Platzgründen wegfallen. Die Fragestellung lautete: KI, künstliche Systeme, was werden sie können? Was werden sie wollen? Was wird aus dem Menschen?
Jürgen Schmidhuber, wissenschaftlicher Direktor des Forschungsinstituts fürs KI IDSIA bei Lugano, einer der Väter des Deep Learning, erinnert daran, dass die Long Short-Term Memory Networks (LSTM), die in seinem Labor in den 1990ern entwickelt worden war, heute von allen grossen Digitalfirmen von Apple bis Facebook verwendet werden. Sie sind die treibende Kraft hinter den magischen Apps, die das Schreiben vereinfachen, Videos erkennen oder Sprachen übersetzen. Er meint: „Beim gegenwärtigen Trend sollten wir in 25 Jahren welche haben, die so viele Verbindungen wie das menschliche Gehirn haben. Derzeit sei die KI noch nicht einmal auf Kleinkinderniveau.“
Auch Luc Steels, Direktor des Artificial Intelligence Lab der Universität Brüssel und Roboterforscher relativiert: „Wir sollten den gegenwärtigen Stand der KI nicht überschätzen […]. Zwar gäbe es Fortschritte in der KI, doch werde die humane Intelligenz der künstlichen noch Jahrzehntelang weit überlegen sein.“ Offensichtlich bezieht er sich da u.a. auf die Empathie – der Fähigkeit, sich in die Gefühle anderer Personen hineinzuversetzen. Seine Kernaussage: „Das Menschsein beinhaltet so eine enorme Bandbreite an Kompetenzen und Fähigkeiten, dass gar nicht daran zu denken sei, dass die Roboter in absehbarer Zeit zu uns aufschliessen.“
Möchten Sie einen Roboter küssen?
Mit seinem Computerprogramm Watson hilft IBM Menschen, ihre täglichen Aufgaben besser zu bewältigen. Das Expertensystem für Unternehmungen antwortet auf Fragen des Menschen. Dieses System ist quasi eine Plattform mit kognitiven Servicen, das jedoch mit einschlägigen Daten trainiert werden muss. Wolfgang Hildesheim, Leiter Watson bei IBM fügt noch an: „Was den Menschen von der Maschine unterscheidet ist, dass wir liebende und geliebte Wesen sind. Ausserdem werde wir wohl nie einen Roboter küssen wollen.“
Die gegenwärtige Diskussion über die Gefahren der KI hält Christoph von der Malsburg für marktschreierisch und wenig inspiriert. Mit 75 Jahren arbeitet der Physiker und Neurobiologe heute als Senior Fellow am Frankfurt Institute for Advanced Studies. Er macht darauf aufmerksam, dass die gegenwärtigen Systeme nur Muster erkennen, aber kein echtes kognitives Verständnis entwickeln können. Doch er warnt davor, dass eines Tages „Intelligenz in einem echten Sinne technisch realisiert wird und dass unser Selbstverständnis einen schweren und ganz irreparablen Einbruch erleben wird.“
Wie Kinder im Disneyland
Nick Bostrom, der schwedische Philosoph meint zum Thema: „Wenn es gut geht, werden wir Menschen eine ähnliche Rolle spielen, wie die Kinder in Disneyland. Menschen können künftig einfach keine wichtigen Entscheidungsträger mehr sein.“ Angesichts des Panoramas gegenwärtiger Worldleaders (Xi Jinping, Putin, Trump, Erdogan, Orbán) liest sich obige Antwort weniger als eine Zukunftsprognose, denn als Gegenwartsanalyse.
Den Schluss der Statements, die ich sehr stark gekürzt der ZEIT vom März 2018 entnommen habe, liefert der Philosoph Thomas Metzinger. „Dass die Entwicklung der KI extreme Risiken mit sich bringe und die politischen Institutionen bei diesem Thema schlafen, sei nicht von der Hand zu weisen.“ Das Risiko sieht er in der Kombination der maschinellen Fähigkeiten „mit den oft egoistischen, unaufgeklärten Denkmustern des Homo sapiens“. Abschliessend Metzinger versöhnlich und beruhigend: „Was den Menschen auszeichnet ist seine Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und zur Zuversicht, selbst im grössten Problem noch eine Chance zu entdecken.