Zu Beginn dieses Sommers 2012 - geprägt durch Finanzturbulenzen weltweit, im EU-Raum durch den schwerkranken Euro besonders dominant sichtbar – stellt sich uns eine überraschende Frage. Leben wir eigentlich in einer Art Schattenwelt?
Platons Höhlengleichnis ist, auch nach 2400 Jahren, noch immer höchst aktuell, doch es ruft nach einer Neuinterpretation. Zur Erinnerung, in aller Kürze: Aus Platons „Staat“ stammt die berühmte Geschichte, in der Sokrates erzählt: Gefesselte Gefangene sitzen seit ihrer Kindheit in einer Höhle, in der sie auf der Wand nur die Schatten dessen wahrnehmen können, was draussen im Sonnenlicht abläuft. Sie halten ihre Situation für die reale Welt, die Wirklichkeit, die Wahrheit. Würde man sie befreien und nach aussen führen, würden sie vom Sonnenlicht geblendet und wünschten sich zurück in die Höhle. Mit der Zeit aber würden sie sich an die Helligkeit gewöhnen und Menschen und Dinge erkennen. Sie haben kein Bedürfnis mehr, in die Höhle zurückzukehren – sie haben erkannt, dass sie in der Höhle einer Täuschung unterlegen sind. Jetzt sind sie sozusagen emanzipiert. Das Gleichnis ist eingebettet im grossen Ganzen der Betrachtungen Platons über die Gerechtigkeit. Letztere findet Platon am idealsten im Staat verwirklicht.
Meine sehr persönliche Interpretation dieses Höhlengleichnisses (der Geschichtsprofessor würde da wohl die Augenbrauen hochziehen, doch Sokrates nähme mir das überhaupt nicht übel) beginnt mit Fragen. Leben wir heute eigentlich in einer Schattenwelt (einer Höhle), die wir fälschlicherweise als wahre Welt deuten? Sind wir „Gefesselte“ und empfinden, was im Alltag in Politik und Wirtschaft abläuft, als normal? Unser Denken ist bekanntlich auf das individuelle Wahrnehmen der uns unmittelbar umgebenden Welt gerichtet. Doch was verbirgt sich dahinter? Meiner Meinung nach: Die Dominanz der Finanzwelt. Weltweit tanzen die politischen Leaderfiguren wie Marionetten an Fäden aufgehängt nach den Fingerbewegungen des unsichtbaren Spielers. Die Direktoren dieser Theater sind die ganz Grossen der Finanzwelt, die nach ihrem pervertierten ökonomischen Drehbuch nicht nur der Wirtschaftpolitik, sondern längst der weltweiten Politik überhaupt, manipulieren. Galt die Ökonomie einst als Lehre zum Wohl der Menschheit, ist sie in Zeiten des Liberalismus mehr und mehr vom Weg der Tugend abgekommen. Der verborgene, oder sagen wir der verloren gegangene Sinn dieser Institutionen war doch einst, dass sie in Rahmenbedingungen eingebettet sein sollten, um der Gesellschaft zu dienen. Genau das Gegenteil dessen, was heute passiert.
Einigermassen fassungslos nehmen wir täglich zur Kenntnis, dass die Schattenwelt längst die reale Welt dominiert, und diese seit Jahren in immer auswegslosere Ecken und Sackgassen drängt. Diese Schatten-Players haben ihre eigenen Regeln etabliert, wohlweislich hinter verschlossenen Türen, nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Nach aussen ist eine Seilschaft von Juristen, PR-Beratern, Head-Huntern und Mediemogulen dafür zuständig, dass ihre offizielle Botschaft zum Wohl des kleinen Menschen überzeugend und eindrücklich dargelegt wird. Mit eleganten mathematischen Modellen, komplexen Derivaten (die sie selbst nicht mehr verstehen), mit fundierten Prognosen wird über die Zukunft berichtet, wie sie der sich selbst regulierende Markt für uns bereit hält, ja garantiert. Tritt unversehens das Gegenteil dessen ein, was diese Strategen als rational legitimieren, war es unvorhersehbar – eigentlich nicht möglich.
Dass dem so ist, da tragen in nicht unwesentlichen Teil einzelne Medien eine Mitverantwortung. Das Bild über den Zustand der Welt, das die Massenblätter (nicht nur der Boulevardpresse) uns täglich liefern, entspricht ihrer Vorstellungswelt - eben auch einer Schattenwelt – genauer gesagt den Ertragsvorgaben der Konzernspitzen dieser Medienunternehmen. Katastrophen, Attentate, Verbrechen, Klamauk oder Schönheitskonkurrenzen müssen für Auflagewachstum und Einschaltquoten sorgen. Und nun, da das Fernsehen in allen Regionen der Erde vorherrschend ist, ist die Folge eine globale Störung des Weltbilds, die noch dazu eine Infantilisierung der Gesellschaft nach sich zieht. Doch die Welt wäre mehr, erst wenn wir aus der Höhle treten und uns nicht mehr blenden lassen, können wir das realisieren.
Die Politik der westlichen Welt liegt in Agonie. Nicht nur ist sie dualistisch gespalten in Verfechter des konservativen Weltbilds der vergangenen Jahrhunderte und solche eines liberalen Menschenverständnisses als Voraussetzung der Lösung der Zukunftsprobleme. Damit blockieren sich die USA seit Jahren. In Europa wird das Ganze verschärft durch den Gegensatz zwischen persönlichen Vorstellungen über Sparzwang und Wirtschaftswachstum. Theoretisch wäre diese Lähmung der grossen Politik überwindbar. Doch die Steuerung von Staat und Gesellschaft und die Durchsetzung der relevanten Ziele setzt voraus, dass Teilnehmende der G8, G20 oder Brüssel-Sondergipfel (als Beispiele) zweierlei Qualitäten verkörperten: Unabhängigkeit von wirtschaftlichen Interessenlobbys und Bereitschaft zur Kooperation statt Kampf. Ersteres ist nicht ganz unvorstellbar, letzteres im Licht der neuesten neurologischen Erkenntnisse, wie unsere Gene wirken, eigentlich selbstverständlich (diese funktionieren als Kooperatoren).
Am dringendsten scheint also im Sonnenlicht, dass Staaten und Gesellschaften sich aus den Klauen der Finanzmärkte befreien. Zwar sucht die Politik krampfhaft nach Lösungen, doch die Regeln diktieren hinter den Kulissen noch immer die Grossbanken. Sie widersetzen sich weltweit seit 5 Jahren allen Versuchen, minimale, staatliche Regelwerke einzuführen. Da Bankenpleiten in grosser Zahl drohen und damit nationale Wirtschaftsinteressen tangiert würden, schrecken die nationalen Politiker vor konsequenten Massnahmen, die diesen Namen verdienen, zurück. Die Jugendarbeitslosigkeit wird als kleineres Übel betrachtet – so wenigsten kann man die heutige Situation beurteilen. Doch wenn die Jugend auf dem Altar der Banken geopfert wird, ist das vergleichbar mit Menschenopfern, die wir seit Jahrhunderten als Relikt der unwissenden Vorfahren aus unseren Gedanken verbannt haben.
Platons Höhlengleichnis hat bis heute überlebt, ja, es ist ein mahnendes Beispiel dafür, dass wir erneut drauf und dran sind, uns blenden zu lassen. Mit unserer eingeschränkten Sichtweise (auf die Höhlenwand, sprich TV-Monitor) gerichtet, nehmen wir nicht wahr, wie wir einer Täuschung unterliegen. Heute nennt man das „unbemerkt manipuliert werden“. Wann durchschauen wir dieses perfide Spiel? Wann setzen wir uns ein für eine Neuauflage des Begriffs Aufklärung? Wann erwacht in uns das Bedürfnis, nicht mehr in die Höhle zurückkehren zu wollen? Gerechtigkeit könne am idealsten im Staat verwirklicht werden, dachte Platon. Was denken wir?