Das Resultat der Präsidentschafts-Wahlnacht vom 9. November 2016 in den USA bestätigt den weltweiten Trend: Demagogen (und Populisten) vor, alle gegen die „Eliten da oben“! Nachdem der blonde Demagoge mit seinen schönen Märchen von einer besseren Zukunft sein Publikum begeistert hat, wird dieses in den nächsten Jahren erfahren, dass es dem wortgewaltigen Märchenonkel nicht in erster Linie darum ging, das beklagenswerte Los der gebeutelten weissen Unter- und Mittelschichten zu verbessern, sondern um etwas ganz anderes, nämlich seine eigenen, persönlichen Machtansprüche zu stärken. Zwar hat „das wahre, ohnmächtige Volk“ die Wahl gewonnen, doch es ist geschürten Illusionen erlegen. Sind diese einmal verflogen, kommen sie nie wieder. Dieser Vorgang wiederholt sich … seit rund 2500 Jahren.
Aristoteles und die Demagogen
Schon Aristoteles warnte vor ihnen, den „Volksführern ohne Amt und somit ohne Rechenschaftspflicht“. Daraus können wir schliessen, dass Demagogen zur Demokratie gehören, wie Populisten zur Politik. Aristoteles beschrieb mit dem Begriff Demagogie eine moralisch verwerfliche Verhaltensweise; die Schmeichelei gegenüber Personen oder Gruppen zum Zweck persönlichen Macht- oder Gelderwerbs: „Der Demagoge ist nämlich der Schmeichler des Volkes. Darüber hinaus ist Demagogie ein Verhalten, das vor allem aber in degenerierten Demokratien vorkommt“, so oder ähnlich soll sich Aristoteles vor rund 2350 Jahren geäussert haben.
Aristoteles, selbst kein Verfechter der Demokratie, der diese aber immerhin als weniger schlecht als Tyrannis oder Oligarchie bezeichnete, meinte, dass von den Demokratien die beste diejenige wäre, in der die Gleichheit am meisten vorhanden ist. Dann kritisiert er jedoch explizit die Athener Demokratie: „Die Demagogen nun sind schuld daran, dass alles nach Volksbeschlüssen und nicht nach den Gesetzen entschieden wird, indem sie alles vors Volk ziehen. […] So sei athenische Demokratie schliesslich in eine Herrschaft des Pöbels ausgeartet.“Der Athener-Demokratisierungsprozess vergrösserte die schon von Solon (~640 - 560 v.Chr., einer der sieben Weisen und Wegbereiter der attischen Demokratie) erkannte Gefahr, dass in Lebensfragen der Polis Rhetorik statt Sachverstand, Karrieredenken statt Verantwortungsbewusstsein den Ausschlag geben könnten.Fast scheint es also, dass Demagogen ein moralisch fragwürdiger, aber dennoch notwendiger Bestandteil der Demokratien, zugleich aber manchmal ein Faktor für deren Untergang wären. Die Lektüre Aristoteles‘ Politik zumindest kann diesen Eindruck erwecken. Jedenfalls ist die Langlebigkeit des Demagogen-Phänomens beachtenswert und lässt es ratsam erscheinen, nicht mit Hysterie darauf zu reagieren.Langlebige Demagogie
Demagogen sind also rhetorisch begabte Volksverführer, sie schüren Emotionen und betreiben erfolgreich politische Hetze. Sie bedienen sie sich unsachlicher, verunglimpfender Äusserungen zum Zweck, Hass gegen Personen oder Gruppen hervorzurufen. Über die vielen Jahrhunderte hat sich die Deutung immer mehr ins Negative gewandelt. War Demagoge noch für Perikles und zu seiner Zeit (~490 v.Ch.) durchaus ein Ehrentitel – eben ein angesehener Redner und Führer des Volkes – galt Demagogie später als Gefahr für die Stabilität der Staatsformen. Heute kann diese Definition gelten: „Demagogie betreibt, wer bei günstiger Gelegenheit öffentlich für ein politisches Ziel wirbt, indem er der Masse schmeichelt, an ihre Gefühle, Instinkte und Vorurteile appelliert, ferner sich der Hetze und Lüge schuldig macht, Wahres übertrieben oder grob vereinfacht darstellt, die Sache, die er durchsetzen will, für die Sache aller Gutgesinnten („das Volk“) ausgibt, und die Art und Weise, wie er sie durchsetzt oder durchzusetzen vorschlägt, als die einzig mögliche hinstellt“ (Martin Morlock). Volksverführer ist von Führer abgeleitet, eine auch im letzten Jahrhundert gültige Definition, mit deutlich negativem Beigeschmack.
Fatale Polarisierung
Mehr oder weniger gleichzeitig mit der steigenden Kritik an Demagogen diagnostizierte Domesthenes (~384 – 322 v.Chr.), der seinerseits als bedeutendster Redner der Antike bezeichnet wird, später eine weitere grosse innere Gefahr: Die politische Öffentlichkeit wurde immer stärker von einer fatalen Polarisierung zwischen zwei Parteilagern erfasst, die sich gegenseitig blockierten. Er beklagte „die klar erkennbare Systemwidrigkeit einer ausgeprägten und dauerhaften politischen Lagerbildung [heute Parteien] im Rahmen einer direkten Demokratie, die auf die kontinuierliche und loyale Zusammenarbeit aller Kräfte und einen beständigen, individuell offenen Wettbewerb unter ihren Politikern in besonderem Masse angewiesen war“ (Demosthenes-Biographie von Gustav Adolf Lehmann).
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts muss man nicht mit den Fingern auf die USA des Novembers 2016 zeigen. Es gibt in Europa nicht wenige Länder, in denen sich die Parlamentarier über Jahre hinweg gegenseitig blockieren und so Lösungen vereiteln, die so dringend wären. Auch in der Schweiz.Politische Ideengeschichte
Zurück zum 5. Jahrhundert v. Chr. Die Quelleninterpretationen des „athenischen Wunders“ sind verständlicherweise unterschiedlich. Wohl aber basieren die meisten auf der Bejahung dieser Hauptmerkmale: Beispielloser politisch-militärischer Aufstieg, kulturelle Blüte und neue politische Ordnung, genannt Demokratie. Gleichzeitig bekommen die Demagogen ihren Platz. Einerseits wurden sie kritisiert als populistische Agitatoren, andererseits bildeten sie ein unverzichtbares Element der demokratischen Ordnung.
So übt beispielsweise Platons Sokrates („Gorgias“) heftige Kritik an Demagogen, „… denn nicht die Verkündung von Wahrheit, sondern die Erzeugung von Wohlwollen beim Zuhörer sei der Zweck ihrer Reden, und nicht das Wohl der Polis, sondern eigener Vorteil sei ihr Ziel.“* Andererseits „…versorgten sie die Demos in den Volksversammlungen mit Informationen, stellten politische Konzepte vor und präsentierten Alternativen.“Diese sozialen Voraussetzungen mussten gegeben sein, um die Tätigkeit eines Demagogen überhaupt ausüben zu können: „ökonomische Ressourcen, um für die Politik abkömmlich zu sein und Bildung, um die rhetorischen Standards der Volksreden zu erfüllen.“Reden an das Volk
Das Image eines Demagogen „…wurde im Wesentlichen in der direkten Kommunikation mit dem Volk gestaltet. Das wichtigste Medium war dabei der eigene Körper“ – also Faktoren wie Physiognomie, Frisur, Gestik, Stimme. „Demagogen präsentierten sich betont unaristokratisch. Sie verzichteten auf die Darstellung materieller Überlegenheit.“
Und sie „… überboten sich gegenseitig in der Bekundung ihrer Loyalität zur Polis und zur demokratischen Ordnung. Dabei inszenierten sie den Ausschluss der traditionellen sozialen Ressourcen aus der politischen Kommunikation…“Krise und Vorwürfe
„Als im Spätsommer 413 v. Chr. die Nachricht von der Katastrophe in Sizilien nach Athen gelangte, löste sie eine heftige Reaktion der Bürgerschaft aus. Zunächst wollen die Athener gar nicht glauben, dass Flotte und Heer völlig aufgerieben seien. Später, als sie die Wahrheit akzeptiert hatten, überkam sie Wut auf die Demagogen, die zum Zug geraten hatten. […] Der Grund für die Fehlentscheidung sei der Einfluss grosssprecherischer Demagogen.“
In diesem Zusammenhang ist aber der Umstand zu betonen, dass auch damals „… kein Demagoge in der Lage war, seinen errungenen politischen Einfluss gegen die Mehrheit des Domos einzusetzen.“Und heute?
Absichtlich habe ich in diesem Beitrag den Bezug zwischen Demagogen der Antike und Gegenwart gesucht. Das Herauspicken einzelner Zitate (aus verlässlichen Quellen) ist natürlich – aus dem Zusammenhang gerissen – geschichtsphilosophisch betrachtet, nicht statthaft. Es sei mir verziehen, denn ich fand diese Gegenüberstellung des Phänomens „Demagogie“ so spannend, dass ich die aktuelle politische Entwicklung in den USA damit relativieren wollte.
Dass wir auch in Europa und anderswo einer Renaissance der besonderen Art – des Machtanspruchs und der Machtergreifung wortgewaltiger Demagogen – beiwohnen, ist klar ersichtlich. Dass dabei der eigene Nationalstaat verklärt wird, gehört zur rückwärtsgewandten Optik. Doch in den westlichen Demokratien, die diesen Namen verdienen, verbreitet das letzte der oben aufgeführten Zitate eine gewisse Beruhigung. Gegen eine kritische Mehrheit des Volkes bleibt der Einfluss der Demagogen zwar nicht unüberhörbar, doch letztlich klein. Deren Ideen, deren persönliches Wirklichkeitsbild, sind hierzulande nicht mehrheitsfähig. Europa, der Mutterkontinent der Aufklärung.Wiederholt sich die Geschichte?
„Die Geschichte wiederholt sich nicht, sondern sie bleibt gleich.“ Dies meint Bernd Roeck, Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich im November 2016. Betrachtet man rückblickend bekannte Demagogen, immer „starke“ Männer, stellt man zwei „Markenzeichen“ fest. Einerseits deren permanente Angriffslust - unterstrichen durch die erhobene Faust - gegen „Sündenböcke“, früher z.B. die Pest, bekämpft durch Hexenverfolgungen. Andererseits die Verkündung einfacher Lösungen: Zurück zu den Wurzeln, zur Heimat, in der alles doch so gut war, als Beispiel. Auch Roeck beruhigt: Kräftige Institutionen sind das beste Mittel, um einen Möglichkeitsraum für Demagogen erst gar nicht entstehen zu lassen.
*Alle nachfolgenden Zitate stammen aus:
Christian Mann: „Die Demagogen und das Volk – Zur politischen Kommunikation im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr.“ (KLIO, Beiträge zur Alten Geschichte)