Am 4. März 1933 beschwor der frisch gewählte 32. US-Präsident Franklin D. Roosevelt in seiner Inaugural Adress die Menschen seines Landes (und der Welt): „Let me assert my firm belief that the only thing we have to fear is fear itself.“ „Ich bin überzeugt davon, dass wir nichts zu fürchten haben als die Angst.“
Auch 78 Jahre später hat dieser beschwörende Appell des grossen demokratischen Präsidenten nichts von seiner Aktualität eingebüsst. In einer Zeit der oft geradezu hysterischen politischen Beschwörungen um Sicherheit, Freiheit und Unabhängigkeit unseres Landes lohnt es sich. ab und zu zwei Schritte zurückzutreten und zu versuchen, lärmige Parolen zu durchschauen! Die altbewährte Taktik der Angstverbreitung – Verlustangst zu suggerieren – funktioniert fast immer, leider. Sich vor etwas zu fürchten, ist zutiefst menschlich. Reflexartig verschliessen wir die Augen vor der Realität. Diese sieht allerdings meist anders aus, als sie von jenen Interessenskreisen in grellen Farben gemalt wird. (Aus aktuellem Anlass: Angst vor dem Supergau in einem Atomkraftwerk ist natürlich berechtigt, aber nicht Thema dieser Kolumne. Darauf komme ich zurück).
Jene, die (mit Hintergedanken) Angst verbreiten, verzerren in grotesker Weise die tatsächliche Situation und schwächen letztlich Mensch und Gesellschaft. Wir sollten das nicht vergessen. Wer unablässig und bewusst den Staat („die da oben“) anschwärzt, hat immer auch unausgesprochene Absichten. Schliesslich ist dieser Staat aber nichts anderes als die Organisation unserer, der schweizerischen Gesellschaft. Zu dieser müssen wir – allerdings - Sorge tragen. Auch gutgläubige „Sympathisanten“ sollten das bedenken. Die Methode des Anprangerns, der Schuldzuweisung und Diskreditierung Andersdenkender ist eine zutiefst destruktive, deren Folgen im letzten Jahrhundert verheerend waren. Wer heute die Erwartungen in die Veränderbarkeit der Politik und Gesellschaft (nach seiner Fasson) ins gefährlich Irreale hochschraubt, sucht in Wahrheit nur eine Rechtfertigung dafür, die Rechtsordnung selbst (nach seiner Fasson) zu schwächen.
Prof. Fritz Stern, Historiker (Columbia University, New York), der kürzlich wieder in der Schweiz weilte und der als profunder und unabhängiger Kenner der USA gilt, meinte zur Situation in Amerika: Die Ausnutzung von Angst war schon ein grosses Thema des 20. Jahrhunderts. Auch heute wieder, dazu kommt die Schürung von Ressentiments gegen den Staat. Der Staat wird geradezu verachtet. Dazu kommt ein antiintellektueller Populismus, der sich gegen die sogenannten Eliten richtet. Gemeint sind vor allem die Exponenten der „Tea-Party“, der rechtsradikalen Gruppierungen, die die Neokonservativen längst rechts überholt haben. Doch ähnliche Töne und Kräfte sind auch in Europa und damit der Schweiz unüberhörbar.
Angst zu verbreiten, wirkt in der direkten Demokratie zudem stärker als anderswo, da Angst sich in den Resultaten von Wahlen und Abstimmungen direkt auswirkt. In der Abzocker-Debatte drohen Vasella + Co. unverhohlen mit dem Wegzug ihrer Firma ins Ausland. Zur Diskussion um Boni-Grenzen für Manager stellte sich Peter Brabeck, der Nestlé-Chef, die Frage, „ob die Schweiz noch der richtige Standort“ sei. Bei der „Reichtumssteuer“-Debatte warnten die Gegner vor dem Wegzug der Reichen ins Ausland und bei der Pauschalsteuerdiskussion für Ausländer warnten die gleichen Kreise vor dem Umzug „ihrer“ Reichen in andere Kantone. Gegen schärfere Bankenregulierungen drohte der Chef der CS damit, „Alternativen zu prüfen“.
Und die ewiggestrigen Mannen der stärksten politischen Partei suggerieren dem verblüfften und verängstigten Publikum neuerdings, Andersdenkende seien keine Schweizer mehr. (Ich bin also schon längere Zeit kein Schweizer mehr, was meiner Verbundenheit zum Land jedoch nichts anhaben kann). Die Propagandastrategen aus dem Kreis dieser wackeren Mannen verweisen darauf, wie „verantwortungslos“ unser Parlament in Bern mit Währungs- und finanzpolitischen Risiken umgeht, wie es „kapituliert“ vor möglichen Zuströmen von Personen aus Afrika. Sie bezichten Andersdenkende schon mal als „Totengräber“ der Schweizer Landwirtschaft und sie warnen unseren Volkswirtschaftsminister davor, die Schweizer Landwirtschaft zu „opfern“.
Dieses Vokabular ist verräterisch. „Welcher Sprache bedienen sich Politiker, um in den Köpfen der Menschen die gewünschte Wirklichkeit entstehen zu lassen?“ Es lohnt sich, dieser Frage nachzugehen.* Es sind unterschiedliche, persönliche Weltbilder: in diesem Fall das der egoistischen, konservativen, patriarchalischen „Autoritäten“, die ihr Heil als Überväter, Weltverbesserer oder Schweizbewahrer sehen. Es sind die vergangenheitsorientierten, befehlserteilenden Männer (es gibt tatsächlich wenige Frauen, die sich darin auszeichnen), die sich an die Macht klammern und mit Drohungen und Angstkulissen Unsicherheit verbreiten. Die unermüdlich missionieren gegen Andersdenkende und Nicht-Schweizer, deren persönliches Weltbild ein so ganz anderes, ein eher liberales, visionäres, auf die Zukunft gerichtetes ist. Eines, das von Toleranz und Respekt geprägt ist.
Angst zu schüren vor dem Verlust von Sicherheit, Freiheit, Unabhängigkeit, alles Qualitäten, die im 21. Jahrhundert vor allem durch intelligente, grenzüberschreitende Kooperationen gestärkt werden, ist durchschautes Mittel zum Zweck. Auf der anderen Seite: Angst ist ein schlechter Ratgeber.
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Christoph Zollinger:
Update nach 2500 Jahren – EPOCHALER NEUBEGINN
Europäischer Hochschulverlag Bremen
(Populäres Sachbuch, Neuerscheinung Frühling 2011)