Die Volksinitiative will die Laufzeit der in der Schweiz bestehenden Kernkraftwerke (KKW) begrenzen. Sie sollen bis 2029 schrittweise abgeschaltet werden. Dagegen wehrt sich die Atomlobby. Während das Initiativkomitee das Sicherheitsargument hervorhebt und auf die einheimische, erneuerbare Energie verweist, warnen die Energiedienstleistungskonzerne vor dadurch entstehenden, zusätzlichen Milliardenkosten. Bundesrat und Parlament lehnen die Initiative ab.
Kantone gegen das Volk?
Die Situation ist eigenartig. Bei einem Thema, das uns alle betrifft - auch wenn wir ehrlicherweise nicht über das Wissen verfügen, „richtig“ entscheiden zu können - schaltete sich vier Wochen vor dem Abstimmungstermin die KKW-Betreiberin Axpo in die sehr emotionale Diskussion ein. Obwohl die Atomkraftwerke Leibstadt und Beznau I wegen Sicherheitsproblemen „momentan“ ausser Betrieb sind, erhebt der Axpo-Chef Andrew Walo den Drohfinger: Entweder ihr lehnt die Initiative ab oder es wird euch 4,1 Milliarden Franken kosten. Etwas sehr plump, scheint mir.
Brisant ist dieses Szenario deshalb, weil die Axpo bekanntlich den Kantonen der Nordostschweiz und dem Aargau gehört. Mit anderen Worten: Sie gehört dem Volk. Genau dieses Volk – nämlich der Steuerzahler – soll büssen, sollte es die Frechheit haben, anders als Herr Walo zu denken. Ob sich dieser Schachzug im Land der direkten Demokratie an der Urne auszahlen wird, bleibt offen. Zu denken gibt diesbezüglich auch, dass die Nein-Kampagne durch die KKW-Industrie mit 250‘000 Franken mitfinanziert wird. Werden hier nicht die Kantone gegen ihr eigenes Volk ausgespielt?Schwierige Abwägungen
Wer seine Meinung nicht - aus sachlichen oder ideologischen Gründen - längst gemacht hat, steht mit seinem Ja- oder Nein- Entscheid vor einem Bündel von Fragezeichen. Welcher Mensch kann schon die Verantwortung übernehmen für die Sicherheit eines KKW zu garantieren? Oder, wer kann beurteilen, ob eine KKW-Abschaltung „übereilt“ ist und deshalb ein „Versorgungssicherheitsproblem“ darstellen könnte? Wenn sich Professoren und Fachleute selbst nicht einig sind? Dies sind dann doch auch weitgehend emotionale Faktoren, die mitspielen. Wenn unsere Energieministerin Doris Leuthard also verkündet, bei einem Ja würde die Energieversorgung für 1,6 Millionen Haushalte fehlen und die Schweizer Netzgesellschaft Swissgrid postwendend kontert, diese Aussage sei falsch – tatsächlich eine etwas verwirrliche Ausgangslage.
Was sagt die Schweizer Aufsichtsbehörde Ensi?
Direktor Dr. Hans Wanner äussert sich auf der Homepage (ensi.ch) wie folgt: „Heute können die Unternehmen kaum mehr Geld verdienen mit Strom. Deshalb ist es nicht auszuschliessen, dass die Betreiber der KKW, welche grossmehrheitlich im Besitz der Kantone sind, zukünftig nur noch so viel in ihre Anlagen investieren, wie unbedingt nötig ist, um die gesetzlichen Minimalanforderungen zu erfüllen. Diese veränderte wirtschaftliche Situation der Betreiber konfrontiert die Aufsichtsbehörde in der Schweiz mit einer neuen Situation: Forderungen des ENSI, die teure Nachrüstungen nach sich ziehen, können das Aus für ein KKW bedeuten. Damit aber ist klar, dass das ENSI politisch vermehrt unter Druck kommen kann. Den Druck von der Anti-AKW-Bewegung sind wir schon länger gewohnt. Wegen der neuen wirtschaftlichen und politischen Situation muss die Aufsichtsbehörde aber künftig wohl auch zusehends mit Druck von der KKW-freundlichen Seite rechnen.“
Hier bezieht sich das ENSI wohl auf das von ihr befürwortete Konzept der maximal zweimal verlängerbaren Laufzeiten für KKW, das mehr Sicherheit und klare Planung gebracht hätte. Doch dagegen entschied sich die Mehrheit des Parlaments.Der Schweizerische Gewerbeverband im Off-Side
Wie man polemisch und unsachlich politische Kampagnen führt, weiss niemand besser als der Verbandsdirektor des Gewerbeverbands, Hans-Ulrich Bigler. Indem er Nationalrat Bastien Girod, der sich für die Initiative einsetzt, deswegen als Terroristen bezeichnet, ist mehr als geschmacklos: „dümmlich“ (NZZ am Sonntag). Girod als Taliban zu bezeichnen ist tatsächlich primitiv. Girod hatte vorgängig darauf hingewiesen, dass unsere Atomkraftwerke gegen Angriffe von Terroristen mit Flugzeugen gewappnet wären.
Die Argumente der Initiativgegner
Die Schweizer KKW dürfen heute solange laufen, „wie sie sicher sind“. Sie würden deswegen vom ENSI überwacht. Eine übereilte Abschaltung unserer KKW würde zu mehr Stromimporten aus dem Ausland führen, da sich der KKW-Strom nicht rechtzeitig durch sauberen einheimischen Strom ersetzen lasse. Zudem würden diese Importe die Schweizer Netzinfrastruktur überlasten. Mit einer Begrenzung der Laufzeiten würden ausserdem die Spielregeln grundlegend geändert, da die Betreiber ihre Investitionen, die sie im Vertrauen auf geltendes Recht tätigten, nicht mehr vollständig amortisieren könnten. Dadurch entstünden Entschädigungsforderungen in Milliardenhöhe (siehe weiter oben).
Ein gewichtiges Argument im Zusammenhang mit Stromimporten aus dem Ausland ist jenes der Herkunft dieses Stroms. Aus Deutschland wäre es mit Kohle produzierter, aus Frankreich Atomstrom, beide Quellen nicht gerade im Sinne der Initiativbefürworter. Allerdings streiten sich die beiden Lager darüber, ob und wieviel zusätzlicher Strom überhaupt nötig wäre.Die drei Gründe für einen Ausstieg aus der Atomenergie
Das sagt das Initiativkomitee: „Der geordnete Atomausstieg sorgt für Sicherheit und schützt die Heimat. Er schafft einen vernünftigen Zeitplan für einen schrittweisen Ausstieg under setzt der Atomkraft mit 2029 ein Ablaufdatum. Der geordnete Atomausstieg ist machbar. Die neuen Technologien haben sich bewährt.
Trotz Tschernobyl und Fukushima leistet sich die Schweiz mit Beznau I das weltweit älteste AKW. Es steht im 47. Betriebsjahr und hat mit gravierenden Sicherheitsproblemen zu kämpfen, die sich mit keinen Nachrüstungen beheben lassen. Zudem wurde noch nie ein AKW länger kommerziell betrieben als Beznau I – das ist ein gefährliches Feld-Experiment. Auch Mühleberg und Beznau II gehören zu den ältesten AKW der Welt. Zentrale Bauteile wie der Reaktor lassen sich nicht erneuern und altern vor sich hin. Damit ist das Risiko massiv erhöht, dass auch hierzulande ein Unglück geschieht“(geordneter-atomausstieg-ja.ch).
Für viele Befürworter der Initiative ist ein Ausstieg ohne Datum deshalb kein Ausstieg.
Warum nicht Strom sparen oder selber produzieren?
In den Abstimmungskampagnen und in der eidgenössischen Abstimmungsbroschüre nicht zu Wort kommt erstaunlicherweise die Alternative, Strom zu sparen. Bei der aktuellen, gigantischen Stromverschwendung in der Schweiz wäre, bei etwas gutem Willen, sehr viel Strom zu sparen. Vor allem nachts, wenn Hausfassaden, Gärten, Kirchen, von Strassen nicht zu reden, hell erleuchtet sind und von Wohlstand und Sicherheitsillusion zeugen, spielt hier die billigste und schnellste Variante, um einer allfälligen Stromknappheit zu begegnen, offensichtlich überhaupt keine Rolle. Auch mit der Umstellung auf LED-Beleuchtung liesse sich gewaltig Energie sparen.
Die Initiativgegner verweisen immer wieder darauf, dass die Stromlücke nur durch „dreckige“ Importe zu vermeiden wäre. Dieses Bild ist natürlich falsch. Bereits heute kommt die einheimische Produktion für acht Prozent oder 4400 GWh des Endverbrauchs auf. In der Pipeline warten 10‘230 GWh (Hochrechnung ergäbe ca. 19 Prozentanteil) auf der KEV (Kostendeckende Einspeisevergütung)-Warteliste, täglich kommen weitere dazu. Warum geht das nicht schneller? Der Anteil einheimischer Wasserkraft beträgt heute rund 60%, jener des Atomstroms rund 33%. Gemäss Statistik des Bundesamts für Energie BFE im Rahmen der Energiestrategie 2050 liegt das Ausbaupotenzial der Wasserkraft bei über 50%.Der Aufbruch ins 21. Jahrhundert und der Energiezukunft sieht ein Funktionieren der Stromnetze vergleichbar mit dem Internet vor. Sie werden digital und offen sein und eine dezentrale Energieproduktion ermöglichen.Sicherheit, das flexible Argument
Wenn beide Seiten bei ihrer Argumentation den Begriff Sicherheit bemühen, ist das schon bemerkenswert. Bei den Befürwortern schafft der geordnete Ausstieg Sicherheit für die Bevölkerung. Bei den Gegnern hat Sicherheit die oberste Priorität: die KKW dürfen so lange laufen, wie sie sicher sind. An der Urne wird sich weisen, welche Art von Sicherheit die Bevölkerung vorzieht.
Die Energiezukunft
Im Oktober 2016 verschickte EnergieSchweiz (energieschweiz.ch) ein 47-seitiges Extrablatt in der Schweiz. Darin wird ein umfassendes Programm für Energieeffizienz und erneuerbare Energien aufgezeigt. Dieses 1991 vom Bundesrat ins Leben gerufene und vom Bundesamt für Energie geleitete Forum leistet mit freiwilligen Massnahmen einen wichtigen Beitrag zur Umgestaltung der Schweizer Energielandschaft. Zusammen mit 350 Partnern aus dem öffentlichen Sektor und der Privatwirtschaft realisiert EnergieSchweiz bereits heute über 800 Projekte jährlich. Gefördert werden ebenfalls Initiativen zur Effizienzsteigerung im Industrie- und Dienstleistungssektor. Solche konstruktiven Projekte bringen uns weiter als der Aufbau von Drohungen, Erpressungen und Angstkampagnen.
Für die Initiative sind u.a.: Umweltverbände, SGB, GP, SP, EVP, GLP, CSP, JUSO.
Gegen die Initiative kämpfen u.a.: Schweizerischer Gewerbeverband (SGV), Economiesuisse, SVP, FDP, CVP.