Denkfehler damals und heute
Können sich Befürworter und Gegner bei dieser wichtigen Abstimmung zu den Bilateralen III (im Jahr 2027?) darin einig sein, dass ein Ja vergleichbar wäre mit einer Mini-Revolution? Revolutionen haben es in sich. In diesem Beitrag mache ich mir Gedanken über die Vergleichbarkeit einerseits
– der Folgen und grossen politischen/wirtschaftlichen Konsequenzen der neuen CH-EU-Verträge (quasi einer industriellen, wirtschaftlichen und politischen Revolution) und andererseits
– dem Aufruhr auf dem Beschäftigungssektor, der im 18./19. Jahrhundert durch die industrielle Revolution, gegenwärtig durch die KI-Revolution, durchgeschüttelt wurde respektive wird.
Wie wir wissen, waren damals Prognosen, wie sich das langfristig auf den menschlichen Arbeitsmarkt auswirken würde, sehr riskant. Jedenfalls haben sich die pessimistischen Vorhersagen, die im 18./19. Jahrhundert Angst unter der arbeitenden Bevölkerung verbreiteten, nie bewahrheitet. Statt Krisen ging es aufwärts.
Was ich damit sagen will: Damals konnten wir zwar ziemlich gut prognostizieren, welche Jobs durch die «Revolution» verloren gehen werden. Man konnte aber nicht prognostizieren, wie die Arbeitsmarktentwicklung aufgrund der neuen industriellen Technologie mit ihren neuen Berufen verlaufen wird. So ist es auch heute noch: Man kann abschätzen, welche Jobs der KI-Revolution zum Opfer fallen werden, doch damit hat es sich. Wir haben schlicht keine Ahnung, welche neuen Jobs als Folge der Umwälzungen entstehen werden und den Verlust-Trend ausgleichen, vielleicht sogar umkehren werden. Wir wissen ja nicht einmal, was wir nicht wissen.
Genau gleich verhält es sich bei den Prognosen über die Konsequenzen der Bilateralen-III-Verträge. Auch wer heute bei einem Ja vom Verlust helvetischer Traditionen wie 1. August-Feiern und bäuerlicher Hofläden schwadroniert, weiss es nicht.
Die Frage der Bilateralen III, der vertieften Kooperation der Schweiz mit der EU
Mit geballter Kraft kämpfen die Gegner einer vertieften Kooperation seit Monaten gegen einen weiteren Ausbau dieser Beziehung. Genau wie bei der oben geschilderten Diskussion um die Zukunft der Beschäftigung werden unermüdlich gravierende Nachteile für unser Land als Folgen dieser «Revolution» aufgeführt.
Vergleichbar propagieren die Schwarzmaler (bewusst) ihre Nein-Thesen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, welche Vorteile sich in der Folge eines Ja-Entscheids entwickeln könnten. Oder anders gesagt: Keine Gedanken, schon gar kein Wort, werden sich damit befassen, welche Nachteile das Nein zu den Bilateralen III haben könnten.
Die Rolle des Ständemehrs
Wortführerinnen und Wortführer der politischen Wahlpropaganda sind sich einig, dass diesmal das Ständemehr-Nein einen Ja-Entscheid der Gesamtbevölkerung ins Gegenteil kehren könnte. Deshalb der verbissene Hosenlupf um das Ständemehr. Vielleicht kann es deshalb nicht schaden, wieder einmal (stark vereinfacht) die wichtigsten Faktoren anzusehen:
Der Nationalrat repräsentiert eher die urbane, wirtschaftlich breit gefächerte Bevölkerung, während der Ständerat die Kantone, mehr ländlich und traditionell verankert, vertritt. Der Nationalrat fokussiert schwergewichtig auf den wirtschaftlichen, effizienten Arbeitsmarkt mit sozialer Ausstattung, auf Umweltfragen, Bildung und tut dies tendenziell aus einem moderat moderneren Blickwinkel – im Gegensatz dazu der Ständerat, der eher konservativ agiert mit Schwergewicht auf kantonale Belange, Infrastruktur und Finanzwesen.
Das Verhalten des Nationalrats ist etwas reformfreudiger, speditiver und eher parteipolitisch geprägt, mit Fokus auf nationale Ziele – im Unterschied zum Ständerat, der klar föderalistischer, zurückhaltender, langsamer, konsensorientierter und mit Hauptaugenmerk auf die (kleineren) Kantone politisiert.
Der Nationalrat ist im Vergleich zum Ständerat etwas zukunftsgerichteter und pragmatischer unterwegs mit Hauptaugenmerk auf Vorteile für Wirtschaft und Volk. Der Ständerat dagegen ist vorsichtig konservativ, vergangenheits- und stabilitätsgeprägt, autonomiebedacht und legt mehr Wert auf Schutz der eigenen Landwirtschaft und ländlichen Bevölkerung.
So kann es nicht erstaunen, dass der Nationalrat bezüglich der Abstimmung zu den Bilateralen III inkl. Personenfreizügigkeit – mit Absicherungsmechanismus bei der Öffnung des Arbeitsmarktes – zu einem Ja neigt und sich kompromissbereit zeigt. Der Ständerat dagegen tut sich schwerer mit Erweiterungen der bestehenden Verträge. Der Nationalrat dürfte offener für die Erweiterung des Rahmenabkommens sein, auch weil er eine gewisse Notwendigkeit zugunsten stabiler, europäischer Handelsbeziehungen sieht. Der Ständerat ist da klar vorsichtiger und zurückhaltender, autonomiebedachter bezüglich Souveränitätsverlust.
Das Abstimmungsresultat
Anhand der effektiven Stimmenzahlen bei der damaligen AHV-Abstimmung zur 13. AHV-Rente habe ich errechnet, dass in jenem Fall 18,45 Prozent (601'984 Stimmen) Nein genügt hätten, um das Ja von 81,55 Prozent (2'661'195 Stimmen) aufgrund der Ständemehr-Regel zu überstimmen. Sollte also dereinst bei der Abstimmung zu den Bilateralen III ein Ja der Bevölkerungsmehrheit einem Ständemehr-Nein der Bevölkerungsminderheit (12 von 23 Kantonen) gegenüberstehen, so müssten wir die Tatsache akzeptieren, dass der Weg in die Zukunft, die politische Strategie dazu, von einer Minderheit der Abstimmenden von 18 Prozent, vorwiegend aus ländlichen, eher konservativen Mitbürgerinnen und Mitbürgern bestimmt würde.