In den Printmedien lesen wir Schlagzeilen wie „Schlacht um Geheimnisse“, „Transparenzterrorismus“, „USA besorgt über Enthüllungen“ oder „Wikileaks will die ganze Welt transparent und ehrlich machen. Aber ist das eine gute Idee? Nein.“ Wer sich, wie der Autor dieser Kolumne, seit gut zehn Jahren mit dem Thema Transparenz* vertiefter auseinandersetzt, kann auch zu ganz anderen als diesen oberflächlichen Urteilen gelangen.
2002 schrieb ich in meinem ersten Buch: „Zu Beginn des dritten Jahrtausends erschüttern Skandale, Vertrauenskrisen und ein schleichender Börsencrash Wirtschaft und Politik. Weniger spektakulär, aber nicht minder drastisch ist der fundamentale Wandel in Wissenschaft und Kultur. Die sichtbaren Umwälzungen sind auf verdeckte Mechanismen, Zwänge und Dogmen zurückzuführen, die entlarvt und transparent gemacht werden müssen.“ Grundüberzeugungen dieser Voraussagen waren und sind es heute noch – neben vielen anderen Beobachtungen – dass etwa das Aufkommen des Internets und die Emanzipation der Menschen, die sich nicht mehr mit nichts sagenden Communiqués oder päpstlichen Beschwörungen abspeisen lassen, die Welt verändern würden. Musste sich die Menschheit früher mit den Informationsbrosamen obrigkeitlicher Zensur nolens volens abfinden, lebt sich’s heute halt doch etwas anders.
Wikileaks steht für eine Revolution der Informationsbranche, früher ein Monopol der Medien. Irgendwie verständlich, dass diese deshalb wenig Freude daran zeigen, dass Internet-Plattformen ihnen „Primeurwerte“ mehr und mehr entreissen. Dass die Medien diese Transparenz-Arbeit auch gerne für sich beanspruchen, zeigt die „Sunday Times“, die im November 2010 aufdeckte, wie korrupte Funktionäre des Fifa-Exekutivkomitees sich für 100 Millionen Euro kaufen liessen. Ebenso genüsslich vertieften sich Medien in ganz Europa ins Thema „Datenklau“ – seit das deutsche Verfassungsgericht ihre Regierung ermächtigt hat, mit in der Schweiz gestohlenen Bankdaten Jagd auf Steuerhinterzieher zu machen, ist der Datenklau sozusagen weissgewaschen und salonfähig. Und Heiner Geissler verkündete nach dem Demokratie-Experiment „Stuttgart 21“ seinem Land und dessen verblüfften Regierung, dass Demokratie nicht mehr funktionieren könne, wie im letzten Jahrhundert. Gemeint waren natürlich die wenig transparenten Vorgänge bei Planung und Entscheidung um den neuen Bahnhof, von denen die betroffene Bevölkerung erst erfuhr, als alles entschieden war.
Und schliesslich, längst bekannt und seit 15 Jahren aktiv, engagiert sich „Transparency International“ (www.transparency.org) weltweit für Korruptionsprävention und -bekämpfung und den Schutz von Whistleblowers (Informanten, wörtlich „Verpfeifer“). Korruption wird generell als Missbrauch einer anvertrauten Machtstellung definiert, als Whistleblowers werden jene mutigen Menschen geschützt, die Ungereimtes bei ihren Arbeitgebern „verpfeifen“ und deswegen nicht selten geschasst werden. Ans Tageslicht befördert werden sollen Missstände, die auf allen Ebenen der öffentlichen Hand, der Zivilgesellschaft, der Privatwirtschaft und der Politik zum Schaden von Dritten begangen werden. Dazu gezählt werden etwa auch die intransparente Parteienfinanzierung in der Schweiz („gekaufte Politik“), das undurchsichtige Lobbying im Bundeshaus oder das Vergabewesen im öffentlichen Beschaffungsrecht.
Unter diesem Aspekt ist die Feststellung, dass Wikileaks die USA und Regierungen weltweit mit der Veröffentlichung von vertraulichen Dokumenten in arge Nöte bringt, keineswegs Grund genug, Wikileaks zu stoppen. Ebenso nervös reagierten Schweizer Finanzinstitute. Wenn die nachdenkliche Weltöffentlichkeit jetzt z.B. weiss, dass die arabischen Staaten den nuklear bewaffneten Iran ebenso fürchten wie die westliche Welt; dass UN-Diplomaten UNO-Mitarbeiter verbotenerweise aushorchen oder dass unsere lieben nördlichen Nachbarn Teile ihrer nicht unbeträchtlichen finanziellen Mittel nicht nur in unseren Hotels, sondern auch als Unversteuertes auf unseren Bankkonten liegen lassen, so sind diese Tatsachen eben für eine Mehrheit der Menschen zumindest interessant. Durch diese Publikationen dürften vor allem die USA an Vertrauen eingebüsst und Verbündete verunsichert haben – das Gleiche gilt für betroffene Finanzinstitute. Wenn illegales Tun ans Tageslicht gerät, gibt es eben mehrere Verlierer. Wenn ein Land illegitimes Handeln schützt, muss es sich nicht wundern, wenn eines Tages eine solche Strategie zusammenbricht.
Die „New York Times“ sieht das ähnlich. So lobt sie Julian Assange, den Kopf von Wikileaks, für „das Geschenk der Information“ und ein republikanischer Kongressabgeordneter aus Texas meinte gar kurz und bündig: „In einer freien Gesellschaft soll das so sein, man darf die Wahrheit erfahren.“ Da mag die NZZ am Sonntag lange schreiben: „Ohne kleine Lügen und Heuchelei wäre der soziale Umgang unerträglich“ – dieser Ansicht mag ein eifriger Journalist zwar durchaus sein, deswegen aber Versuche zur Förderung zeitgemässer Transparenz als eine schlechte Idee zu taxieren, ist allerdings reiner Meinungsjournalismus. Wenn Vertrauensverhältnisse dadurch gestört werden, dass Illegales publik wird, ist das im Prinzip eine wünschenswerte Errungenschaft des IT-Zeitalters. Vergleichbar mit den ersten Discountern im Land (1967), die in der Schweiz weit überhöhte Verkaufspreise pulverisierten, passiert ähnliches heute bei unangemessenem Taktieren. Nur wo die „Gewinnmargen“ unanständig hoch sind, gerät ein System ins Wanken.
Andere Kommentatoren äussern sich skeptisch zur Wikileaks Offensive weil letztere die Demokratien (und damit die falschen) gefährde, da aus Diktaturen keine Informationen an die Öffentlichkeit gelängen. Dies ist in zweierlei Hinsicht falsch. Erstens wissen wir nicht, welche Enthüllungen zukünftig auch aus undemokratisch regierten Ländern ins Internet gestellt werden. Zweitens erinnern wir uns noch sehr gut des Jahres 1985, als ein Michail Gorbatschow das grösste Reich der Welt, die Sowjetunion, mit seiner Glasnost-Offensive grundlegend veränderte. Glasnost heisst Transparenz, Gorbatschow trat ein für eine offenere Politik der Staatsführung gegenüber ihrer Bevölkerung. Die Sowjetunion gibt es nicht mehr.
Gemeinsamer Nenner dieser kleinen Auswahl an Beispielen ist der Ruf nach vermehrter Transparenz. Statt uns über Nutzen oder Schaden einzelner „Lecks“ zu streiten, sollten wir den Zeittrend hinter dem Medienspektakel wahrnehmen: Transparenz als Schlüssel zur Moderne. Das Internet ermöglicht heute, was sich viele Weltbürgerinnen und Weltbürger langem wünschen: das Recht der Öffentlichkeit auf umfassende Information. Das 21. Jahrhundert hat begonnen.
*Christoph Zollinger: Die Glaskugel-Gesellschaft – Transparenz als Schlüssel zur Moderne (2002).
(Bis zur Neuauflage im Moment vergriffen, solange Vorrat beim Autor erhältlich).