Die Einsicht, dass wir uns selber und die Welt nicht mit unserem Bewusstsein im Griff haben, ist faszinierend und befreiend zugleich. Nicht ich denke, sondern es denkt in mir, und dem, was wir „ich“ nennen, wird nur das Resultat bewusst, ein winziger Bruchteil dessen, was „es“ wahrgenommen und verarbeitet hat. Im grössten Sachbuch-Bestseller der dänischen Verlagsgeschichte hat der Wissenschaftsjournalist und Autor Tor Norretranders bereits vor zehn Jahren (2000) diese These formuliert. Mit anderen Worten: Das Bewusstsein stellt sich verzögert ein, weil es uns ein Bild der Aussenwelt präsentieren will, das zweckmässig ist (für die einzelne Person). Dieses Bild ist unser persönliches Erlebnis. Die Welt, die wir sehen, spüren, erleben ist eine Benutzerillusion. Unser Bewusstsein ist etwas Seltsames. „Der Trick des Bewusstseins besteht darin, dass es zwei sehr verschiedene Arten des Zugangs zur Welt kombiniert, nämlich einerseits die Sinnesempfindung von Einwirkungen aus der Aussenwelt und andererseits das Bild, mit dem wir diese Wahrnehmungen erklären. Die Simulation ist das, was wir erleben, die Dinge selbst erleben wir nicht.“
Seither sind weitere Aufsehen erregende Entdeckungen aus dem Bereich Neurologie über die Naturgesetze, die unser inneres Leben regieren, publiziert worden. Unser Denken läuft zur Hauptsache unbewusst ab und wir verarbeiten in unserem Körper laufend Informationen, von denen unser subjektives Bewusstsein gar nichts erfährt. Es ist eine schlichte Täuschung, wenn das Bewusstsein meint, das Handeln des Menschen zu überblicken oder gar zu kontrollieren. Forscher sprechen davon, dass gar 95% unserer Aktivitäten unbewusst determiniert wären. Die eigentliche Antriebskraft unseres zielgerichteten Handelns ist die biologische Notwendigkeit, unsere Bedürfnisse in der Aussenwelt zu befriedigen. Unser Bewusstsein setzt Informationen über den augenblicklichen Zustand des Selbst zu den Gegebenheiten der äusseren Umwelt in Beziehung. Nur ich (oder Sie als Leser/in) können ihre eigenen Emotionen empfinden. Somit ist nicht nur die Wahrnehmung der Emotionen subjektiv, sondern auch das, was sie wahrnimmt. Was Sie wahrnehmen, wenn Sie eine Emotion empfinden, ist Ihre eigene subjektive Reaktion auf einen Vorgang – nicht der Vorgang selbst.
Unsere persönlichen Emotionen sind sozusagen mentale Fingerabdrücke. Wer aus seinem persönlichen Befinden (z.B. Ärger über einen Bundesrat) heraus generell ableitet, selbstverständlich hätten auch die anderen Menschen gleiche Reaktionen, ist auf dem Holzweg. Ein Grossteil dessen, was mir als selbstverständlich erscheint, ist in Wirklichkeit das, was ich über die Welt gelernt habe, wie ich sie erinnere.
Auch ein weiteres Dogma kommt ins Wanken. Noch immer schwebt da und dort die Behauptung in der Luft, wonach sich der Mensch bei seinen Entscheidungen von Vernunft und Verstand/Ratio leiten lasse, wobei die Gefühle möglichst zurückzudrängen seien. Doch „rationales“ Verhalten ist ein altes Vorurteil. Aus der Sicht des neuro- und kognitionswissenschaftlichen Menschenbilds werden unsere bewussten Entscheidungen und Handlungen vorbereitet und getroffen durch emotionale Vorgänge. Das emotionale Entscheidungssystem hat das erste und letzte Wort.
Neben den genetischen Strukturen formen unsere Erfahrungen die Beschaffenheit unseres Gehirns. In den ersten fünf Lebensjahren wird unser Gehirn formiert, dabei verschwinden einzelne neuronale Verbindungen, während andere dazu kommen. Jene Verbindungen, die zu unseren Erfahrungen passen, werden gestärkt, die übrigen geschwächt. Je häufiger eine Synapse genutzt wird, umso mehr chemische Rezeptoren für Neurotransmitter (Botenstoff) wandern zu dieser Synapse. Also, je häufiger eine Verknüpfung aktiviert wird, desto stärker wird die neuronale Verbindung zweier Ideen. Da wir alle in unterschiedlicher Umgebung aufwachsen, machen wir entsprechend unterschiedliche Erfahrungen. Diese „Bilder“ sind also sehr persönlich. Was für den einen die Wahrheit ist, ist in Tat und Wahrheit ein persönliches metaphorisches Bild.
Wer sich im Besitz der Wahrheit wähnt, wer seine Ansicht gar als „wahr“ verkündet, ist – das beweisen die neuesten neurologischen Befunde - noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen. Wahrheit ist eine sehr persönliche Sache – eine Illusion - und da halten wir es lieber mit Sokrates, der vor 2500 Jahren schon wusste, dass er nichts wusste.