Wenn wir am 14. Juni 2015 darüber abstimmen, ob „Superreiche“ zur Kasse gebeten, ob Millionenerbschaften deshalb „zugunsten der AHV“ mit 20 Prozent besteuert werden sollen, geht es nicht nur um Gewerkschaftsparolen und Klassenkampf. Vielmehr haben wir es mit einer rechtsstaatlich fragwürdigen Initiative zu tun, deren Auswirkungen oft verkannt werden. Aus gutem Grund lehnen deshalb Bundesrat, Nationalrat, Ständerat, die Kantonsregierungen, SVP, FDP, GLP, BDP, CVP der Schweizerische KMU Verband, der Schweizerische Arbeitgeberverband, der Hauseigentümerverband Schweiz, der Gewerbeverband und der Bauernverband diese alles andere als gerechte Initiative ab.
Eigenartiges Verständnis von Gerechtigkeit
Man muss schon ein verblendeter Verfechter des Sozialstaates für das 21. Jahrhundert sein, um – wie Paul Rechsteiner vom Schweizer Gewerkschaftsbund – den Vorschlag einer Erbschaftssteuer ein „wichtiges Projekt für mehr Steuergerechtigkeit zu bezeichnen“. Erbschaften von über zwei Millionen Franken sollen zukünftig mit 20 Prozent besteuert werden. Eine zusätzliche Steuer für eine Minderheit der Bevölkerung auf Geld, das bereits dreimal versteuert worden ist: wie kann das als gerecht bezeichnet werden?
Der Blick auf EU/EFTA
Von den 29 Staaten kennen nur deren fünf neben der Einkommenssteuer eine Erbschafts- und eine Vermögenssteuer, wie dies der Schweiz bei Annahme der Initiative drohen würde. Griechenland, Spanien, Frankreich, Slowenien, Norwegen. Dass die grossen Vermögen in Griechenland, Spanien und Frankreich „abgewandert“ sind, wissen wir mittlerweile. Deutschland und Italien kennen die Erbschafts-, nicht jedoch eine Vermögenssteuer. Österreich kennt weder noch.
KMU: lausige Aussichten
Aus dem Kreis der rund 8300 KMU, der wichtigen Basis des Wohlstands in der Schweiz und Arbeitgeber für fast vier Millionen Menschen, kommen gewichtige Einwände. Zur Erinnerung: 99 Prozent der Schweizer Unternehmen sind KMU, 79 Prozent davon sind Familienbetriebe. Die Angst vor Notverkauf oder Verschuldung verunsichert gewaltig. Die familieninterne Nachfolge wird offensichtlich von mehr als der Hälfte aller Unternehmer geplant. Da mag der Hinweis der Initianten, für KMU (und Bauernbetriebe) wären Ausnahmen möglich, nicht beruhigen. Angesichts der hohen Anzahl Arbeitnehmer sind deshalb weit mehr Menschen vom Ausgang dieser Initiative betroffen, als nur die „Superreichen“. Wenn das Geld in Klein- und Mittelbetrieben für eine Erbschaftssteuer zur Seite gelegt werden muss, fehlt es für Zukunftsinvestitionen. Da wird gewaltig am Ast gesägt, auf dem wir sitzen.
Definitionsprobleme bei der Umsetzung dieser Ausnahmen, sofern die Erben das Unternehmen mindestens 10 Jahre weiterführen, sind abzusehen. Wie werden Geschäfts- und Privatvermögen des Patrons auseinandergehalten, respektive, was wird verschoben, was nicht? Studien weisen darauf hin, dass steuerbefreite Firmen während 10 Jahren unter einer drohenden Steuerlast stünden. Ein solches Damoklesschwert ist Gift für Investitionen und Kreditvergaben durch Banken. Die Summe aller dieser Unsicherheiten sind Wettbewerbsnachteile, die zu denken geben.
Achtung: der Verkehrswert!
Der steuerpflichtige Nachlass soll sich zukünftig aus dem Verkehrswert der Aktiven und Passiven zusammensetzen. Die Summe der Vermögenswerte kann also bedeutend höher sein, als was vor dem Erbfall in den Steuererklärungen ausgewiesen wurde. Am Beispiel einer Liegenschaft wird das besonders deutlich: Alle, insbesondere auch die vielen Eigenheimbesitzer, wissen, dass der theoretische Verkehrswert in der Mehrzahl aller Fälle höher ist als der für die Vermögenssteuer (und Berechnung des Eigenmietwertes) eingesetzte. Wer das berücksichtigt, realisiert, dass die Behauptung der Initianten, nur die Allerreichsten würden betroffen sein, nochmals schlicht falsch ist.
Thomas Piketty’s sozialrote Brille
Seit „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, von Thomas Piketty 2014 erschienen ist, füllen Kommentatoren seitenweise Spalten der Printmedien. Es scheint deshalb angebracht, etwas ausführlicher auf diese Lektüre einzugehen. Überzeugte Gegner unseres kapitalistischen Systems (also vehemente Befürworter des Sozialstaates), an vorderster Front Gewerkschaftsführer Paul Rechsteiner und Daniel Lampart, aber auch Hans Kissling, vormals Chef des Zürcher Statistikamtes), sind dankbar auf diesen „TGV“ aufgesprungen. Sie haben in der Eile wohl übersehen, dass Piketty’s Weltsicht allzu sehr von der französischen Grande Nation geprägt ist.
Und natürlich auch inspiriert – fast 150 Jahre später – durch sein Vorbild Karl Marx: „Das Kapital“. Marx‘ Stärke lag in der Analyse, jedoch vermied er es, Prognosen über zukünftige Entwicklungen zu machen.
Piketty‘s Utopie
Obwohl im Buchtitel gar nicht erwähnt, gilt der Zorn des zweifellos begabten Ökonomen der Ungleichheit bei der Verteilung der Einkommen und Vermögen. Aus seiner Perspektive gibt es dagegen nur ein Mittel: Drastische Regulierung mit dem Ziel der Errichtung eines Sozialstaates. Diese französische Vision hat seit 70 Jahren Tradition – der daraus resultierende, desolate finanzielle Zustand unseres Nachbarlandes spricht Bände (z.B. die Idee der 35-Stundenwoche).
Tatsächlich hat Piketty eine beeindruckende Fülle an Daten, Tabellen, Vergangenheitswerten zusammengetragen. Bei seinen Diagnosen und Prognosen allerdings liegt er mehr als einmal daneben. Im Übrigen beinhalten seine Lösungsvorschläge – also die Regulierung des Kapitals – im Wesentlichen zwei Steuern: eine progressive Einkommenssteuer und eine (globale) Kapitalsteuer. Beides kennen und haben wir in der Schweiz seit Jahrzehnten.
Zwar erwähnt Piketty kurz eine Erbschaftssteuer, um das also gleich zu relativieren. „Die relative Unvorhersehbarkeit der Kapitalrendite ist im Übrigen einer der Gründe dafür, dass es effizienter ist, Erben nicht ein für alle Mal im Augenblick der Übertragung zu besteuern (durch die Erbschaftssteuer), sondern auch zeitlebens in Form von Steuern, die auf die Einkommen aus dem ererbten Kapital und auf den Wert des Kapitals selber erhoben werden.“ Nochmals: genau das zeichnet unser Steuersystem aus. Unsere Vermögenssteuer von rund 0,5% pro Jahr belastet, über 30 Jahre gerechnet, Vermögen mit 15%.
Happige Kritik
In einem ausführlichen Beitrag „Through the roof“ zerpflückt der Economist (28. März 2015) Piketty’s Hauptargumentation. Seit Erscheinen des über 800-seitigen Wälzers ist also fast ein Jahr vergangen. Die relativ späte Kritik hängt wohl damit zusammen, dass – wer darüber berichten will – das Buch selbst gelesen und studiert haben sollte.
Gemäss Economist hat Matthew Rognlie, 26-jähriger Graduate Student am Massachusetts Institute of Technology (MIT) genau das getan. Seine drei Hauptkritikgründe:
- Kapitalrenditen bleiben à la longue nicht hoch, sondern weisen eine sinkende Tendenz auf, denn moderne Kapitalinvestments verlieren heutzutage rascher an Wert als bei früheren Investitionen in Maschinen.
- Wo tatsächlich höhere Renditen erzielt werden, sind diese fast ausschliesslich auf steigende Immobilienpreise zurückzuführen.
- Die Konklusion, dass der Anteil der Arbeitnehmenden am Vermögen weiterhin konstant sinke, basiert auf der Idee der Substitution Arbeiter/Roboter. Wo allerdings grosser Reichtum in Immobilien blockiert ist, dürfte dies weitaus schwieriger sein als Piketty meint.
Kluft zwischen Arm und Reich
Diese Kluft ist ein besonders beliebtes Sujet der Geschichtenerzähler aus dem linken Lager. Nur - viele dieser Behauptungen halten einer seriösen Überprüfung nicht stand. Stellvertretendes Beispiel: Bei der Berechnung dieser Kluft „vergessen“ ging das Pensionskassenvermögen von 940 Milliarden Franken.
Frankreich als Vorbild?
Beat Kappeler hat in der NZZ am Sonntag in seinem Standpunkt zum heutigen Frankreich geschrieben: „Ein versteinertes Denken ruiniert den Wohlstand Frankreichs. […] Das Resultat [dieses Denkens – Kapitalismus gleich Ausbeutung - ] heute sind ein total überschuldeter Staat, hohe Arbeitslosigkeit, ein weit hinter Deutschland und die Schweiz zurückgefallener Wohlstand.“ Eigentlich wissen es alle, die wollen: der französische aufgeblähte Sozialstaat leidet seit Jahren unter wirtschaftlicher Stagnation.
Unsägliche Rückwirkungsklausel
Als wären mit dieser Initiative nicht genug Ärger und Unsicherheit vorprogrammiert, ist sie mit einer Rückwirkungsklausel (1.1.2012) ausgestattet. Dieses Novum für Initiativen ist nicht nur skrupellos und unschweizerisch, von weiten Kreisen wird dessen Rechtsstaatlichkeit infrage gestellt.
Der schweizerische Mittelstand
Gemäss einer durch den Bundesrat im Mai 2015 veröffentlichten Studie gehören zum Mittelstand in unserem Land ca. 60% der Bevölkerung, ein Anteil, der in den letzten 15 Jahren stabil geblieben ist. Deren verfügbare Einkommen sind überdurchschnittlich gestiegen. Das medial verbreitete Lamentieren über den verstärkten Druck auf den Mittelstand entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als unbegründet.
Gesunder Menschenverstand
Gesunder Menschenverstand zeichnet Schweizerinnen und Schweizer seit langem aus, wenn es bei Abstimmungen darum geht, zwischen der Taube auf dem Dach oder dem Spatz in der Hand zu unterscheiden. Oder darum, zwischen Propaganda, Ideologie einerseits und unspektakulärem Pragmatismus andererseits zu wählen.
Literatur:
„Das Kapital im 21. Jahrhundert“, Thomas Piketty (2014)
„Das Kapital“, Karl Marx (1872)
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