Alles begann ganz harmlos. Weggespickte Zigarettenstummel gehörten auf Trottoirs und Strassen einst zum Alltagsbild wie Hundekot. Doch, während der Gesetzgeber hier mit Robidog und Auflesepflicht für Remedur sorgte, emanzipierte sich das achtlose Wegwerfen dort epidemieenartig und dehnte sich innert eines Jahrzehnts auf Zigarettenpäckli, Bier- und Schnapsflaschen oder deren Scherben, Aludosen, Take-away-Verpackungen, Lottoscheine, Gratiszeitungen und anderen Müll aus. Jetzt sind die Behörden überfordert, eine Mehrzahl anständiger Passanten entsetzt, den unanständigen Verursachern ist das sowas von schnuppe.
Auf Ursachensuche
Das achtlose Wegwerfen oder Liegenlassen von Abfall ist ein Ärgernis, offensichtlich aber nicht für alle Menschen. Untersuchungen, weshalb diese unappetitliche Entwicklung, orten die Ursache als eine Folge veränderter Konsumgewohnheiten. Diese wiederum seien das Resultat einer Wegwerfgesellschaft, einer oder zweier Generationen von Ressourcenverschwendern und Umweltverschmutzern. Take-away-Versorgung steuert einen grossen Beitrag zum unappetitlichen Trend bei.
Wer weiter sucht, landet vielleicht bei der Vorbildfunktion der Eltern. Kinder kopieren bekanntlich das Verhalten der Grossen. Deren Wegwerfmentalität, die in den Boomzeiten der 60/70er-Jahre ihren Anfang nahm, stellte tatsächlich eine drastische Veränderung des Konsumverhaltens dar. Sparen, einst tiefverankerte und notgedrungenermassen gelebte Alltagshaltung, bezog sich ja nicht nur auf die penibel abgezählten Fränkli. Sorge tragen zu Gebrauchsgegenständen war eine selbstverständliche, gelernte Haltung. Geräte wurden geflickt, Einkaufstaschen über viele Jahre tagtäglich gebraucht, Kleider ausgebessert, Socken gestopft; Esswaren fortzuwerfen war eine Todsünde. Dass Jugendliche heute keine Ahnung mehr von diesen Zeiten haben, ist ihnen nicht anzukreiden.
Seit gut 40 Jahren ist alles anders. Elektrogeräte, Smart-Phones, Computer, Haushaltgegenstände - alles wird entsorgt. Für den Einkauf gibt es täglich neue Plastic- oder Papiertüten, Kleider landen in der Textilsammlung, oft bevor sie ausser Mode kommen. Socken zu flicken – wer kommt auf diese abstruse Idee? Brot von gestern, Speiseresten von heute – alles landet im Abfallsack. Für etwas bezahlen wir ja schliesslich die Sackgebühr.
Wer sich diesen drastischen Verhaltenswandel innerhalb zweier Generationen vor Augen hält, kann nicht überrascht sein, dass heute eine weitere Eskalation des Einweg- und Wegwerfdenkens aufkommt: Littering ist das Kind seiner Wegwerfeltern.
Symptombekämpfung ist Zeitverschwendung
Jetzt haben wir die Bescherung! In den Städten Bern und Basel ersinnen Politikerinnen und Politiker „Erziehungsaktionen“: Mit einem „Sauberkeitsrappen“ möchte man in Bern die steigenden Kosten der Entsorgung achtlos weggeworfener Abfälle decken. Mit dem Konzept „Drecksack“ versucht Basel dem Abfall in der Innenstadt beizukommen. Gar mit Bussen geht man in Zug, Thurgau, Solothurn, Luzern und in einzelnen Aargauer und Züricher Gemeinden gegen die Täterschaft vor, sofern man sie eruieren kann. Zivile Ordnungskräfte entwickeln ihre Detektivtalente.
Auch auf Bundesebene wird Alarm geschlagen. Die Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie (UREK) will gegen das zunehmende Littering Problem vorgehen. Sie beantragte kürzlich, einer parlamentarischen Initiative Folge zu leisten, die verlangt, dass im Bundesgesetz über den Umweltschutz Bussen verhängt werden können.
Erste Erfahrungen mit Bussen sind ernüchternd. Bei Nacht und Nebel deponierte Zeugen fröhlicher Happenings, ritueller Besäufnisse, trendiger Grillpartys zeugen - vor allem an Wochenenden - von ungebrochenem Selbstverständnis oder intaktem Provokationstalent herumziehender Szenengängern und ihrer Partnerinnen. Werden sie, was selten passiert, angesprochen auf ihr Verhalten, tönt’s etwa so: „Ist was?“ „Sind Sie von der Polizei?“ Oder: „Oldies gehören ins Bett um diese Zeit!“
„Woodstock“ in Frauenfeld
Das Open Air Frauenfeld – es könnte auch andernorts in der Schweiz stattfinden – hinterliess im Sommer 2014 Hunderte von Tonnen Abfall: zerrissene Zelte, kaputte Campingstühle, verdreckte Liegematten und Gummistiefel ergänzten das übliche, oben erwähnte Einwegsortiment. Begründet wird diese Eskalation der Kapitalzertrümmerung mit dem Hinweis, man hätte ja bei den horrenden Eintrittspreisen für Entsorgung bezahlt. Ist das nun Ignoranz oder Arroganz? Oder beides? In der NZZ (18.7.2014) steht es dann schwarz auf weiss: „Die heutigen Festivalbesucher, meist zwischen 17 und 30 Jahre jung, würden mit ihrem extremen Littering der Konsum- und Wegwerfgesellschaft, die sie grossgezogen hat, nur den Spiegel vorhalten. Schuld seien die Älteren, die ihnen keine weiterführenden Ideale vermittelt hätten.“ Da könnte ein Körnchen Wahrheit daran sein.
Schuld sind immer die Andern. Auch diese Haltung ist weitverbreitet, zum Beispiel auch in der aktiven Politikergeneration. Vorbildfunktion, eben. Und noch etwas zeigt sich: Littering-Gebühren sind keine Lösung.
Das ist noch nicht alles
Der fundamentale Wertewandel schwappt über leblose Produkte hinaus. Jetzt geht’s ans Menschliche. Die Wegwerfmentalität triumphiert über vermeintlich ausgediente Ansichten und Haltungen. Zum Entsorgten gehören auch immer mehr Ehe- oder Lebenspartner oder -Partnerinnen, Mittlerweile beträgt die Scheidungsquote im Kanton Neuenburg 60%, im Tessin 55% und in Zürich über 50%. Nicht in diesen Anteilen mitgerechnet sind die Trennungen unverheirateter Partnerschaften, wohlverstanden.
Eine Beziehung degeneriert zur Einweghülse, nach Gebrauch zu entsorgen. Die gleichen, altmodischen Tugenden, die noch vor 60 Jahren den Alltag, die Rituale, die Lebensabschnitte prägten, geraten ausser Mode. Die Sorgfalt im Umgang mit dem Partner, der Partnerin, dem Gegenüber. Der Respekt, mit dem man diesen Mitmenschen begegnete. Die Mitverantwortung für erspriessliches Zusammenleben. Die Rücksicht auf menschliche Macken. Mitmenschen werden zu Ware, nach Gebrauch bitte umweltgerecht zu entsorgen. Nur: weggeworfene Menschen können gar nicht umweltgerecht entsorgt werden. Sie hinterlassen Littering-Spuren, deren Wegräumen nicht dem Amt für Entsorgung und Recycling überlassen werden können. Traurigkeit vermodert nicht.
Wenn Littering ein Kind von ganz durchschnittlichen, eigentlich lieben Wegwerfeltern ist, stellt sich jetzt die bange Frage, wie sich diese Kinder einst als Jugendliche oder Erwachsene verhalten werden, wenn sie zusätzlich geprägt und verunsichert sind durch die traumatischen Erlebnisse verursacht durch die Trennung ihrer Eltern? Welche noch tieferen Furchen hinterlassen Vorbildfunktion und Wertehaltung ihrer geliebten Erzeuger?
Informieren statt lamentieren
Die Herausforderung lautet: Wie motivieren wir eben solche „Nicht-Vorbilder“ zu Verhaltensänderungen, damit ihre Jungen sie wieder ohne Rücksicht auf Verluste kopieren können? Sie müssten ja die oben beschriebenen, menschlichen Werte und Wärmespender zuerst wiederentdecken? Es darf ja nicht sein, dass ein halbes Jahrhundert als Zerfallsperiode menschlicher und materieller Werte dereinst unrühmlich möglichst rasch in Vergessenheit gerät?
Das Verhalten Erwachsener verändern zu wollen ist anspruchsvoll, aber lohnenswert. Denn der Sensibilisierungsprozess Richtung mehr Nachhaltigkeit im gelebten Alltag ist seit Jahrzehnten im Gang. Kleine Schritte, kleine Erfolge – Förderung erneuerbarer Energien, Energiesparmassnahmen, getrennte Abfallentsorgung – sind zarte Vorboten am Horizont, die Aufhellungen ankünden. Vielleicht findet sich ja dereinst eine Organisation (wohl eher als eine politische Partei?), die medienwirksam in Erinnerung ruft, dass Nachhaltigkeit neben Ökologie und Ökonomie eben auch soziales Verhalten einschliesst. Ehrfurcht und Respekt vor dem Mitmenschen, genannt Eigenverantwortung.
Prävention beginnt wieder ganz von vorne
Jetzt ist wohl der Moment gekommen, wo potenzielle, zukünftige Littering-Verursacher auf öffentlichem Grund im zarten Kindesalter durch Care-Teams auf ein neues Umweltbewusstsein sensibilisiert werden müssen, damit sie sich dereinst nachhaltiger als ihre Erzeuger-Vorbilder verhalten können. Sie müssen vieles neu lernen. Bereits sind engagierte Gruppen unterwegs wie die IGSU (Interessengemeinschaft für eine saubere Umwelt), spontane Firmenteams (wie Celtor SA, Tavannes), viele engagierte Lehrpersonen mit ihren Schülern, Sportclubs und Vereine. Ihr Einsatz ist grossartig.
Mit Schulklassen, ja ganzen Schulen von der ersten bis zur neunten Klasse Aufräumtage zu organisieren, wird da und dort bereits erfolgreich ausprobiert. Dabei realisieren unsere Kids, dass die Wegwerfmentalität weder cool, noch hip ist. Sie können darüber zuhause ein Liedlein singen… Warum nicht die erfolgreichsten Sammelteams prämieren?
Die Erkenntnis, dass mit Verboten und Bussen keine wirksamen Anti-Littering-Ideen geboren oder gar Verhaltensveränderungen erreicht werden, ist so ernüchternd, wie aufrüttelnd. Es gibt eben keinen Fahrzeugentzug für notorische Sünder. Übers Portemonnaie liesse sich vielleicht etwas erreichen. Etwa, Take-away-Produkte spürbar zu verteuern mit einer Zweckabgabe? Die Idee des Bundesamtes für Umwelt, eine Mindestbusse von 100 Franken vorzusehen, dürfte zufolge Ratlosigkeit wohl erfolgreich eingeführt werden.
Wenn aber die oben beschriebene Vorbildfunktion der Grossen bei den Kleinen wieder ins Lot gebracht werden soll, sind generationenübergreifende Anstrengungen nötig. Weniger von der Kanzel herab, als aus persönlicher Nächstenliebe. Weniger mit Busse, als mit Belohnung.