Wenn die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise primär als bedrohliche Gefahr – sozusagen als veritabler Orkan – empfunden wird, so entdecken wir doch, quasi als schwachen Silberstreifen am Horizont, auch die grosse Chance dieser ungemütlichen Zeit. Jeder Sturm verzieht sich und die Aufräumarbeiten können beginnen. Die Auswüchse des Neoliberalismus, der Verlust der Bodenhaftung einer arroganten Clique von Egoisten und Claqueuren des Grössenwahnsinns haben in die Katastrophe geführt. Vielleicht verhilft dieser Kollaps des Wahn-Sinns zu einer neuen Art des Denkens? Können wir das Zwillingspaar einer prägenden Manifestation unserer Zeit, das Fehlen ganzheitlichen Denkens und einer zerstörerische Dualismus in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft überwinden?
Weder ist der Markt der allein selig machende Goldesel für eine paradiesische Zukunft, noch ist der Staat Heilsbringer der guten, alten Vergangenheit. Markt und Staat zusammen bilden das Ganze: ein ausgewogener Mix führt zum Gleichgewicht einer lebenswerten Gegenwart in der modernen Zivilgesellschaft. Weder ist die abschottende Rechtsaussenpolitik einer rückwärts gerichteten Volkspartei und das phantasielose Steuerreduktionsthema des Freisinns das Mass aller Dinge, noch ist der reflexartige Ruf nach mehr Sicherheit und AHV der Linksaussen-Genossen die Rettung aus dem Meer der sinkenden Aktienkurse. Die Überwindung der sich blockierenden Pole im politischen Schweizerhaus würde die dringend benötigten Lösungen „der goldenen Mitte“ vorantreiben, eine lösungsorientierte neue Politikergeneration vielleicht nachhaltige Projekte lancieren, bei denen das ganze Umfeld einbezogen würde? Und weder ist das medial orchestrierte Gesellschaftsspiel der "Leute von Blochwyla", die Personen statt Probleme herum schieben, besonders originell, noch ist der Rückzug aus der freiwilligen Beteiligung in eben diesem Blochwyla und dessen politischen oder humanistischen Traditionen vertrauensbildend. Die viel gerühmte schweizerische Stärke wäre in Tat und Wahrheit ein Zusammengehen rücksichtsvoller aktiver Menschen, die Privilegien der helvetischen Demokratie zwar genössen, gleichzeitig sich um die inhärenten Pflichten kümmern würden. Sozusagen eine moderne Kooperation innerhalb des Quartiers, des Landes, Europas?
Wo liegt das neue Denken? Wie könnte die bessere Zukunft aussehen? Wohl weniger in einem Rückfall in vergangene Strukturen. Die Antwort auf den entfesselten Kapitalismus der üblen Art kann auch nicht mit Streikdrohungen gewerkschaftlicher Heilsbringer gefunden werden. Der Aufbruch gründet etwa in der Definierung des nachhaltigen Handlungsbedarfs, der zukünftigen Märkte, der erneuerbaren Energien. Die Verteidiger der alten Partikularinteressen, die Lobbyisten überholter Techniken und Profiteure weltfremder Subventionen – kurz, die diskreten Kämpfer für ihren eigenen Vorteil zulasten der Mehrheit der Bevölkerung – sie alle müssen überzeugt werden, abzurücken von der beschränkten Sicht der Einzelteile. Wer den grösseren Teil des Ganzen in seiner Arbeit ausblendet und dafür umso lauter weibelt, ist nicht zukunftskompatibel. So wenig wie wir eine Gesellschaft als Anhängsel des Marktes wollen, so wenig brauchen wir zukünftig Einflüsterer als Drahtzieher einer überholten Interessenpolitik des 20. Jahrhunderts.
Führt das neue Denken zu Überraschungen? Geraten Egoismus und Hedonismus aus der Mode? Macht unsere Verunsicherung in Zeiten erodierender Papierwerte bald Platz für den Aufbruch ins neue Jahrtausend? Kann die lähmende Angst überwunden werden durch das Erkennen der grossen Chancen nach der Krise? Packen wir das an? 200 Jahre nach der letzten, fremdbestimmten „Revolution“ in der Schweiz – wollen wir die selbstbestimmte? Können wir uns – aufgeschreckt durch die Turbulenzen der Weltwirtschaftskrise – zu einem Richtungswechsel aufraffen? Statt Pflästerlipolitik, grundlegend neue Szenarien für unser Land denken und auch anpacken?
Hier ein Beispiel von vielen: Mit unseren föderalistischen Strukturen aus dem 19. Jahrhundert ist im 21. kein Staat mehr zu machen. Als hätte nie eine IT-Revolution stattgefunden, arbeiten wir – kostspielig und ineffizient - in 3000 Gemeinden gleichzeitig an Herausforderungen, die im kommunalen Rahmen teilweise gar nicht gelöst werden können; in 26 kantonalen Hoheitsgebieten verhindern ebenso viele "Fürstenhöfe" zeitgemässe, gesamtschweizerische Antworten auf die drängenden grösseren Probleme. Und in Bern versuchen redliche Kräfte, den schweizerischen Sonderfall zu rechtfertigen, derweil Europa zusammenwächst und so zumindest versucht, die grenzüberschreitenden grossen "Baustellen" zu sanieren. Natürlich gehört nicht der Föderalismus abgeschafft, nur dessen unzeitgemässen Skurrilitäten.
Probleme können nicht mit derselben Denkweise gelöst werden, wie sie geschaffen wurden. Dies wusste Albert Einstein intuitiv. Beginnen wir mit Visionen, schaffen wir Szenarien, schöpfen wir Zuversicht, probieren wir das Neue! Können wir das? „Ja, wir können.“ Wollen wir das? Vielleicht sollten wir!