Gross ist der Schock in einzelnen Gemeinden über das Verbot zum Bau neuer Zweitwohnungen. Der 11. März 2012 wird wohl als weiterer Überraschungssonntag in die Annalen der eidgenössischen Abstimmungsgeschichte eingehen. Nicht alle sind darüber glücklich, doch eine Mehrheit der Stimmenden (50,6%) bestimmt in diesem Lande. Zur Erinnerung: Mit einem noch knapperen Resultat (50,3%) wurde 1992 der Beitritt der Schweiz zum EWR verworfen. Auch damals ohne wenn und aber.
Rückblickend lässt sich der von starken Emotionen (und Partikularinteressen) geprägte Verlauf dieser direktdemokratischen Ausmarchung in vier Bestandteile zerlegen: Abstimmungskampf, Selbstmitleid, Aufbruch, Analyse.
Abstimmungskampf. Wie immer, wenn es um gewichtige privatwirtschaftliche Ideologie geht, warnten auch diesmal die involvierten Verbände, Gemeinschaften und Parteien, die sich gegen Beeinträchtigungen ihrer „Freiheit“ stemmten, mit den Floskeln der Vernebelung und Angst verbreitenden Drohgebärden vor den für sie unbequemen Folgen eines Ja. So war etwa in der NZZ (Thomas Egger, 27.2.12) zu lesen: „Kantone und Gemeinden haben längst wirksame Massnahmen gegen bauliche Exzesse beim Zweitwohnungsbau ergriffen.“ Der Ansatz der Initiative von Franz Weber wurde im gleichen Beitrag als überflüssig und schädlich bezeichnet. Und natürlich: Die Folgen einer Annahme würden zu Abwanderung der Gäste und Einbussen der Dorfläden führen, die Wettbewerbsfähigkeit des Schweizer Tourismus würde geschwächt. Ob so viel Traurigkeit (oder war es Unverfrorenheit?) blieb manch einer Leserin, einem Leser des Qualitätsblattes die Spucke weg.
Informierten Schweizer Bürgerinnen und Bürgern ist allerdings klar, dass in der Bundesverfassung und im Raumplanungsgesetz eine haushälterische Nutzung des Bodens, eine Begrenzung der Siedlungen und die Schonung der Landschaft explizit verlangt werden. Doch wer unser Land, insbesondere die beliebten Ferienorte kennt, wartet seit Jahrzehnten darauf, dass diesen Paragraphen auch nachgelebt werde. Tatsache ist, dass der Bundesrat noch nie einen kantonalen Richtplan zurückgewiesen hat. Und auch in der kürzlich erfolgten Revision des Raumplanungsgesetzes sucht vergeblich, wer wirksame Massnahmen gegen den überbordenden Zweitwohnungsbau erwartet. Soviel zur Ausgangslage.
Selbstmitleid. “Täubele“, das Zürcher Dialektwort für zornig sein, trifft den Kern der aufgebrachten, in ihrem Selbstverständnis schwer getroffenen Unterlegenen. „Besitzer werden vor Bundesgericht gehen“, orakelt der Gemeindepräsident von Grindelwald. „Stadt entscheidet über Land“, kommentiert der Bündner Volkswirtschaftsdirektor den „rabenschwarzen Tag“. „Verheerend“ und „ein Desaster“, wettert ein Bündner Gemeindepräsident. Im Wallis befindet man sich in kollektiver Schockstarre, von einem Albtraum wird gesprochen. „Wir haben keinen Plan B“, meint der Urner Baudirektor. Der Bauunternehmer in St. Moritz: „Wir haben keine Perspektiven mehr“, der Immobilienhändler gleichenorts: „Weniger Arbeitsplätze, Abwanderung aus dem Tal, werden die Folgen sein.“ Ohne diese Reaktionen weiter zu kommentieren, erinnern wir uns unwillkürlich des alten Bonmots: „Wer sich getroffen fühlt, der ist gemeint!“
Aufbruch. Stellvertretend der ehemalige St. Moritzer Kurdirektor Peter Danuser, nicht unglücklich über den Volksentscheid: „Wenn ein Ort über 70 oder 80 Prozent Zweitwohnungen verfügt, muss man ihn bevormunden und den Riegel schieben. Der Schutz der Natur ist wichtiger. Das Baugewerbe im Tal ist völlig überdimensioniert. Nun muss man halt umdenken“ (TA 13.3.12). Aus Landschaftsschutzkreisen wird daran erinnert, dass sich dieser Entscheid heilsam auswirken wird. „Der Verbrauch von Boden und Landschaft ist irreversibel. Es erstaunt, wie sehr der elementare Zusammenhang in der politischen Umsetzung ausgeklammert und in der ökonomischen Praxis ein blinder Fleck ist. Eine wirtschaftliche Entwicklung zu gestalten, die nicht vom Kapital zehrt, sondern von den Zinsen lebt und also nachhaltig ist, das ist die Chance“ (NZZ 26.3.12).
Analyse. Unter dem Titel „Schwindendes Vertrauen“, lesen wir in der NZZ (12.3.12): „Die hohe Akzeptanz der Initiative des Umweltaktivisten Franz Weber über das linke und grüne politische Lager hinaus hat auch damit zu tun, dass viele der forcierten Bautätigkeit in der ganzen Schweiz skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Der Erfolg der Initianten zeugt von einem Misstrauen gegenüber den von Bundesrat, Parlament und Kantonen bereits eingeleiteten Schritten gegen den Zweitwohnungsbau.“ Von Avenir Suisse meldet sich der Projektleiter Raumentwicklung zu Wort (NZZ, 17.3.12): „Schon lange war absehbar, dass der Zweitwohnungsbau – zumindest in seiner exzessiven Form – kein nachhaltiges Geschäftsmodell ist. Zweitwohnungsanteile von 50 bis 80 Prozent sind in vielen Hot Spots inzwischen die Norm. Dadurch verschleissen die Tourismusorte ein zentrales Standortkapital: schöne Landschaften und intakte Ortsbilder. Zudem kannibalisieren Zweitwohnungen die Nachfrage in der Hotellerie und kalte Betten verursachen hohe Infrastrukturkosten.“
Vielleicht erinnern sich Leserinnen und Leser meiner Kolumne durchschaut! Nr. 49 vom 23. Oktober 2011 „Helvetisches Malaise“?