Diesen Frühling hielt Alice Schwarzer an der UNI Zürich einen Vortrag, zu dem 1300 Personen erschienen. „Verunsicherte Männer und emanzipierte Frauen, was nun?“ hiess es in der Einladung, und dem entsprechend war der Frauenanteil in den Hörsälen überwältigend. Seither weiss ich zumindest, dass ich – als Vertreter des schwachen Geschlechts – gut daran tue, mich rasch möglichst zu emanzipieren.
Damit stehen wir schon mitten drin in unserer Thematik. Starkes oder schwaches Geschlecht? Genau diese etwas verstaubte Definition - das ist altes Denken. Es geht doch heute nicht mehr um das starke oder schwache Geschlecht. Was braucht es zur Überwindung dieses überholten Gegensatzes? Anderes Denken: Wir sind alle Menschen, starke oder schwächere.
Alte Denkmuster sind also aufzubrechen, neue zu suchen. „Neubau, Umbau oder Abbau?“ sind wir gefragt. Ich erlaube mir, diese Frage zu erweitern und sie ganz generell auf unser Gedankengebäude zu beziehen, also auf unser Denken. Mit altem Denken haben wir uns die heutigen Probleme eingebrockt, mit neuem Denken werden wir sie bewältigen.
Dies sind meine drei Hauptthesen:
- Vorurteile stehen für altes Denken und führten über die Jahrhunderte zu einem inzwischen überholten Menschenbild. Ich werde Ihnen einige Beispiele geben.
- Wir wissen nicht, was 2030 sein wird, können aber getrost davon ausgehen, dass die Zukunft anders aussehen wird, als wir uns das vorstellen.
- Neu denken heisst: In Andersdenkenden keine Gegner sehen. Aber auch: Hellhörig werden gegenüber althergebrachten Thesen. Sich davor hüten, in alte Denkmuster zurückzufallen!
Wenn es vermeintlich darum geht, sich zwischen 2 Varianten entscheiden zu müssen, sollte schon die Warnlampe aufblinken. Es gibt immer mehrere Möglichkeiten. Neue, zurzeit noch unbekannte Lösungen werden unser Leben stark verändern. Auch da werde ich Ihnen einige dramatische Beispiele geben. Fragen stehen am Anfang und am Schluss meiner Betrachtung. Je eindringlicher wir uns fragen, desto eher realisieren wir, dass die vorschnellen Antworten, die von öffentlichen Leitfiguren verbreitet werden, nicht selten dazu dienen sollen, uns überhaupt vom Denken abzuhalten. Lassen wir uns also nicht ruhig stellen, sondern fragen wir uns zum Beispiel: Welchen ungeheuren Einfluss werden Internet und Computer auf unseren Alltag haben? Welche unerwarteten Erfindungen werden unser Leben drastisch verändern? Was bedeuten die neuesten Erkenntnisse der wissenschaftlichen Forschung und was können wir daraus für unsere tägliche Arbeit ableiten?
Noch bevor wir die Antworten kennen, meine ich, dass es lohnender ist, einen Neubau ins Auge zu fassen, dass wir an der Stelle des alten, ein neues Denkgebäude erstellen sollten. Beginnen wir konsequenterweise mit dem Abbruch des alten Denkgebäudes. Am besten stellen Sie sich die grauen Bunker unserer Armee zur Verteidigung der CH vor: ohne Fenster, ohne Durchsicht – sie werden, Stück um Stück, abgebrochen.
Und wie sollen wir uns das neue Denkgebäude vorstellen? Wie der riesige, durchsichtige Glaskubus von Apple in NY: Transparenz in Vollendung. Der Gegensatz könnte nicht grösser sein: Bunker – Glaswürfel /Armee – Apple /Geheim – transparent. Das neue Denkgebäude kann überall auf der Welt stehen, dessen Bewohner diskutieren nicht hinter verschlossenen Türen, sondern im Internet. Die alten Denkgebäude sind nur mehr Zeitzeugen. So könnten wir z.B. Religionen als Denkgebäude zur Gefühlsdomestizierung bezeichnen. Oder die Lehren des Neoliberalismus als einstürzende Altbauten der Ökonomen. Oder die Stromlücke, vor der man uns warnt, als Gedankenkonstrukt einer alt denkenden Interessengemeinschaft. Und natürlich: Die Sicherheit der Atomkraftwerke sei gewährleistet – das Mantra einer rationalen Epoche. Warum ich das sage? Alle diese Dogmen dienten zu ihrer Zeit dazu, breite Bevölkerungsschichten durch eine gut organisierte Minderheit diskret zu lenken.
Das alte Denken, das wir überwinden wollen, basiert nicht erst seit Descartes und Darwin auch auf Vorurteilen. Ist es gar die Folge eines überholten Menschenbildes? Diese Fragen können am besten herausragende Wissenschaftler beantworten. Deren letzten Erkenntnisse zeichnen dieses neue Menschenbild, Voraussetzung für das neue Denken. Lassen wir uns von ihnen „anstecken“. Aus vielen Forschungsgebieten kommen spektakuläre Hinweise, die althergebrachte „Wahrheiten“ entzaubern.
Der Mensch ist ein rationales Wesen.
Die Trennung von Verstand und Gefühl ist zwar eine wesentliche Grundannahme unseres westlichen Denkens, doch sie ist falsch. Bei unserer Handlungssteuerung hat das emotionale Entscheidungssystem das erste und letzte Wort. Das sagen uns Neurologen und Verhaltensphysiologen. Warum dieses Beispiel? Ertappen wir uns nicht selten dabei, Statistiken, also rationalen Zahlenreihen, zu blind zu vertrauen?
Unser Denken ist grösstenteils unbewusst. Nicht „Ich denke – also bin ich“, sondern eher „Es denkt in mir – also bin ich.“ Und wenn wir bewusst nachdenken, tendiert der menschliche Verstand automatisch dazu, zwischen schnellen, impulsiven, mühelosen Antworten für vermeintlich einfaches (2 + 2 = 4) und langsamen für schwierigeres (17 x 24 = 408) hin und her zu wechseln. Warum dieses Beispiel: Weil das nichts anderes heisst, als dass unsere schnellen Antworten oft schlicht falsch sind, da wir die Frage fälschlicherweise als einfach einstuften. Davon sind Psychologen überzeugt.
Unsere Wahrnehmung ist nicht abbildend, sondern selektiv und stark beschränkt, also konstruktiv. Unsere Vorstellungswelt ist ein persönliches, einzigartiges Konstrukt. Was ist für mich wichtig? Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, sondern wie wir sind. Da sind sich Neurobiologen, Neuropsychoanalysten und Neuropsychologen längst einig. Dieses Beispiel soll dazu dienen, aufzuzeigen, warum z.B. politische Meinungen fälschlicherweise als die einzig wahren angesehen und verteidigt werden.
Und besonders interessant: Wir denken in schlüssigen Geschichten, verknüpfen diese mit logischen Fakten zu einem stimmigen Bild für die Zukunft, doch – die Wirklichkeit ist anders: chaotisch, überraschend, unberechenbar. Weltberühmt mit diesen Erkenntnissen ist der Finanzmathematiker und Essayist Nassim Taleb mit seinem Buch „Der schwarze Schwan“ geworden. Warum dieses Beispiel? Bevor akribisch ausgearbeiteten Prognosen erstellt werden, lenken nicht selten persönliche „Weichenstellungen“ den Gedankenfluss in die gewünschte Richtung. Zwingen wir uns also, nicht in klassischen Positionen zu verharren.
Wie sieht die Zukunft der 2. Säule 2030 aus? - werden Sie also gefragt. Da sollten wir uns schon noch etwas näher mit dieser Zukunft ganz allgemein beschäftigen. Natürlich gibt es da das Buch „2032 – Rückblick auf die Zukunft der Schweiz“, in dem vieles darüber nachzulesen wäre. Das Wichtigste vorweg: Wir wissen nicht, was 2030 sein wird.
Aber wir wissen dafür, dass unsere Erwartungen bezüglich Beschäftigung, Inflation, Zuwanderung die wichtigsten Triebfedern eben dieser Beschäftigungsentwicklung, dieses Inflationsverlaufs oder der Zuwanderungsgrössen selbst darstellen. Darin besteht ein universeller Konsens in der Makroökonomie.
Und bevor wir versuchen, uns jetzt dann in Statistiken und Prognosen zurechtzufinden, möchte ich Ihnen einen weiteren Ratschlag Talebs in Erinnerung rufen: Wir halten Beobachtungen aus der Vergangenheit fälschlicherweise für etwas, was definitiv oder repräsentativ für die Zukunft ist. Doch etwas hat in der Vergangenheit funktioniert – bis, na ja, es funktioniert jedenfalls unerwarteterweise nicht mehr. Gerade beim Studium der 168 Seiten und 240 Abschnitten des zitierten Berichts des BR zur Zukunft der 2. Säule tun wir gut daran, auch statistisch bestens „bewiesene“ Fakten mit einem Fragezeichen zu versehen.
Überhaupt sind „bewiesene“ Fakten gefährlich, oft eben Überreste des alten Denkens. Nehmen Sie die Zuwanderung. Wir brauchen Ausländer, um den Mangel an Arbeitskräften auszugleichen. Also holen wir dazu jährlich 70'000 Menschen in unser Land. Damit diese auch leben können, bauen wir exakt 35'000 neue Wohnungen jährlich. Dazu brauchen wir Arbeiter aus dem Ausland, für die Pflege dieser Leute brauchen wir Pflegepersonal – aus dem Ausland. Warum? Damit wir wachsen können? Damit diese Menschen AHV-Beiträge bezahlen? Damit unsere Wirtschaft nicht in die Krise schlittert? Wachstumsfetisch und Arbeitskräftemangel sind Dogmen, Ersatz für Botschaften, die früher dem Volk von der Kanzel herab verkauft wurden. Galt als Ziel einst, in den Himmel zu kommen als Lohn für Wohlverhalten und Fügsamkeit, was wird denn heute als Belohnung verkündet? Wachstum. Sicherheit. Denken Sie in einer ruhigen Minute darüber nach.
Dies ist keine generelle Wachstumskritik. Doch auch der Blankoscheck, mit dem jede politische Massnahme zugunsten unverzichtbaren Wachstums als Wohlstandsgarant ausgestellt wird, sollte nicht allzu treuherzig akzeptiert werden.
Nachdem ich Sie jetzt möglicherweise etwas verunsichert habe, liegt mir daran, Sie zu animieren, persönliche Befreiungsschläge ins Auge zu fassen, neue Antworten und Wege zu suchen und neugierig in die Zukunft zu schauen. Wird sie gar besser sein, als wir denken?
Vergegenwärtigen wir uns nochmals kurz, dass die Phänomene Internet oder GPS noch vor 50 Jahren völlig unbekannt waren – niemand rechnete mit Ihnen. Stellen Sie sich vor, ich würde meinem Vater ein Smartphone in die Hand drücken! Wenn wir also versuchen, die Probleme von heute mit den Mitteln von heute zu lösen, erleiden wir eine Bruchlandung. Albert Einsteins berühmter Rat: „Wir können die Probleme nicht mit derselben Denkweise lösen, wie wir sie geschaffen haben“, ist auch nach 100 Jahren verblüffend und richtungweisend. Neu denken ist nicht einfach das Gegenteil des alten Denkens, es ist Ausbrechen aus den gewohnten Denkpfaden.
Aus dem Ausland erreichen uns ermutigende Nachrichten. Die Nanotechnologie oder die Synthetische Biologie und andere rasend schnell wachsende Technologien werden unseren Alltag dramatisch verändern. Ich gebe Ihnen einige subjektiv ausgewählte Beispiele davon. Allen ist gemeinsam, dass erst neues Denken, neue Ideen, oft ein drastischer Perspektivenwechsel, zu diesen Erfindungen führten oder führen werden.
In Kalifornien arbeitet ein Institut an der Entwicklung eines Erdölersatzprodukts auf neuartiger Algenbasis, die Kohlensäure und Wasser zu Oel verarbeitet. Der Lichtblick: Damit wird eine wichtige Energie erneuerbar und die CO2-Frage erhält eine andere, unaufgeregtere Dimension.
Überall auf der Welt fehlt es an Hausärzten. An der Harvard Universität wird ein exaktes, billiges, einfach zu bedienendes Diagnosegerät entwickelt, das von jedermann sozusagen als Arztersatz konsultiert werden kann – sofort, ohne Wartezeit. Der Lichtblick: Statt die Ausbildung von zusätzlichen Hausärzten zu fordern und fördern – gibt es bald Diagnosemöglichkeiten der Smartphone-Generation?
Solarzellen werden bald auf der Basis von Nanotechnologie produziert. SUNTECH, der grösste Produzent von Photovoltaikproduzent ist daran, in Kooperation mit IBM und Universitäten, Silicon – das teure und kostbare Basismaterial – zu ersetzen durch weniger teure Grundstoffe, um PV Panels zu produzieren, die viel effizienter sein werden als heutige. Der Lichtblick: Herkömmliche Fotovoltaik ist altes Denken. Erneuerbare Energie erhält durch neues Denken eine völlig andere Dimension.
Heute wird 70% des Wassers durch die Landwirtschaft verbraucht, mit welchen negativen Folgen ist uns allen bekannt. Im Silicon-Valley wird daran gearbeitet, mit Hilfe einer bahnbrechenden Technologie Salzwasser, verseuchtes oder verunreinigtes Wasser in kurzer Zeit in einwandfreies Trinkwasser umzuwandeln. Im Testlabor werden so heute schon mit der Energie eins Haarföns täglich 1000 Liter gereinigt. Der Lichtblick: Immens teure Infrastrukturbauten zur Wasserherleitung aus den Gebirgen werden überflüssig. Sie sind Relikte alten Denkens. Trinkwassermangel erhält eine unerwartete Lösung, die Folge neuen Denkens.
Ich fasse zusammen:
Erstellen wir ein neues Denkgebäude und entsorgen wir alte Vorurteile. 2030 – die Zukunft - wird anders aussehen, als wir uns heute vorstellen. Anders denken, neu denken heisst ausgetretene Pfade verlassen, denn neue Lösungen werden mit der Zeit unser Leben drastisch verändern.
Nach diesen Botschaften stellen wir uns zum Schluss nochmals Fragen:
Was, wenn die Lebenserwartung der Bevölkerung abnimmt?
Warum schickt man uns mit 65 in die Rente?
Wer behauptet, die Alten wären unproduktiv?
Wann werden Unternehmen die Erfahrung ihrer Mitarbeitenden höher gewichten als das Alter?
Bedenken wir dabei, dass es kein richtig oder falsch gibt, sondern dass das Kreative, das Weiterführende, eben das andere Denken, dazwischen liegt. Die Hirnforschung bestätigt, dass wir prädestiniert sind, statt zu verharren, neue Wege zu gehen. Und behalten wir im Hinterkopf, dass das für Unmöglich gehaltene früher oder später eintreten wird. Die Fachleute werden dann sagen, das war nicht vorhersehbar. Ich zähle mich nicht zu den Fachleuten.
Diese Tagung soll dazu dienen, die Vorsorgeproblematik aus allfälligen Schwarz-weiss Clichés zu befreien, etablierte Meinungen zu hinterfragen, gegenüber alten Positionen hellhörig zu werden. Oder gar Grundsätzliches anstelle von Punktuellem aufzugreifen. Miteinander, nicht gegeneinander.
Wissen wir weniger, als wir glauben?
Wissen wir nicht, was wir nicht wissen?
Wissen wir nicht, dass wir nicht wissen, dass wir nicht wissen?