„Kooperation als Eltern aller Dinge“, schrieb ich am 8. April 2012 (durchschaut! Nr. 57) in Anlehnung an Heraklits Feststellung „Kampf ist der Vater aller Dinge“. Kooperation oder Kampf, diese Fragestellung ist neu aufzurollen. Die neurobiologischen Erkenntnisse der letzten Jahre verpflichten uns, alte Klischeevorstellungen zu entsorgen. Warum? Der Mediziner Joachim Bauer1, der selbst jahrelang an Genen des Immunsystems und später im Bereich der Neurobiologie geforscht hat, sagt stellvertretend für seine Kollegen: „In jüngster Zeit hat eine Serie neurobiologischer Beobachtungen ein neues Bild entstehen lassen. Es beschreibt den Menschen als ein Wesen, dessen zentrale Motivationen auf Zuwendung und gelingende mitmenschliche Beziehungen gerichtet sind. (…) Gene sind nicht egoistisch, sondern funktionieren als biologische Kooperatoren und Kommunikatoren.“2 Dies ist Neuzeit, Moderne, 21. Jahrhundert.
Aus der Antike erzählen Überlieferungen aus den Zeiten vor rund 2500 Jahren und den Anfängen Griechenlands, in dem sich Vorformen unserer Demokratie entwickelten. Der damalige kühne Versuch, die Probleme der Zeit in einen einzigen grossen Zusammenhang zu bringen und so Ausgleich, Balance und Erkenntnis als Lösungsformel zu koordinieren, prägt Europa bis heute. Die Idee, eine Kultur nicht um der Herrschaft, sondern um der Freiheit willen auszubilden, kam einem fundamentalen Neuanfang gleich. Während vieles vom Gedankengut der prägenden Persönlichkeiten Athens zwischen 600 und 300 v. Chr. überlebte und grossartige kulturelle Prägungen hinterliess, zerfiel der Staat. Kriege und unfähige Politiker waren die Ursache. Die antike Qualität des Denkens blieb uns erhalten, die grössenwahnsinnige Quantität des territorialen Anspruchs überlebte nicht.
Symbolisch für diese Entwicklung ist das Leben Sokrates’ selbst. Ein Leben lang hatte dieser Philosoph, der durch seine Hässlichkeit auffiel, einfach gekleidet war und barfuss ging, seine Mitmenschen in Bann gezogen oder geärgert. Vor allem die Jugend war von ihm fasziniert. Wo er in der Öffentlichkeit auftrat, bildeten sich Menschentrauben. Sein Markenzeichen: Er verwickelte die Leute in Gespräche, befragte sie endlos so lange, bis sich deren Gedankengebäude als hohl erwiesen. Hinter diesem eigenartigen Vorgehen stand das Rätsel, das Sokrates selbst umtrieb: Wie konnten Handwerker, Künstler, Politiker ein bewundernswertes Können und Wissen entwickelt haben, über technische Probleme hervorragende Kenntnisse besitzen, wenn das doch gleichzeitig nicht galt für das Verhalten von Mensch zu Mensch und insbesondere vom politischen der attischen Bürgerschaft? 399 wurde Sokrates vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Die Anklage lautete unter anderem, dass er die Jugend verderbe. Offensichtlich passte er den Herren der Stadt nicht, sie empfanden sein Wirken als Gefahr (für sich und ihre Pläne). Sokrates verstarb, nachdem er den Schierlingsbecher, indem das Gift genau bemessen war, getrunken hatte.3
2012 steht Griechenland am Abgrund, selbstverschuldet, gefangen in seinem korrupten politischen System. Ganz Europa erlebt Krisenzeiten. Die Welt wird durchgeschüttelt. Der Finanzsektor diktiert der Politik die Tagesagenda. Wollen wir uns aus dem Schlamassel befreien, ist eine neue Denkqualität, Denkkultur Voraussetzung. Eine, die auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Funktionieren des Menschen ist. Die grössenwahnsinnige Quantitätsdimension des Finanzkasinos wird nicht überleben.
Blenden wir nochmals 2500 Jahre zurück. „Sokrates kam in der Konsequenz seines Fragens dazu, dass diese Leute, die durch ihre Auftritte auf der Tribüne sowie durch ihre Abstimmungen die Politik lenkten, nicht ausreichend dafür vorbereitet waren“, schreibt Meier. Und weiter: „Sokrates bereitete einen Weg vor, der aus all den Versuchen, mit den Problemen der Zeit näher an der Oberfläche fertig zu werden, herausführte. Wo die Anderen Einsichten suchten, Gesetze gaben, die politische Ordnung verändern wollten, dies oder jenes taten, um die ganze Welt neu zu deuten: da bereitete sich hier die Erkenntnis vor, dass dies alles zu wenig war, dass man viel grundsätzlicher ansetzen musste, um allererst lernen zu wissen, dass man nicht wusste.“
Faszinierend, dies zu lesen. Top-aktuell, auch für die Welt von heute. Spitzenpolitiker weltweit sind angesprochen.
Aus Platons „Parmenides“ wissen wir zudem, dass schon der junge Sokrates für Ausgleich und Kooperation eintrat. „Sokrates reagierte [auf diesen Konflikt] mit der Entwicklung einer Theorie, um zwischen beiden Seiten zu vermitteln. Mit den von ihm als Lösung angeführten Ideen […] können die sinnlich erfahrene Welt und die geistige miteinander verbunden gelten.“4 Auf diesem Denken basiert Sokrates’ Philosophieverständnis. „Die sokratische Prüfung befreit vom Irrtum, über wirkliches Wissen immer schon zu verfügen.“
Sokrates ahnte wohl das kommende Ende Athens und Griechenlands. Während seiner Zeit setzten die Mächtigen auf Kampf, Krieg, Eroberung – und scheiterten grandios. Die Kriege hatten zu viele Ressourcen verzehrt, Athen hatte aus dem Vollen gelebt, zuletzt wie in einem Rausch, wenn nicht im Wahn. Sokrates’ Schüler Platon bekannte später, dass es ihm nach all den Erfahrungen, die er in den vorangegangenen Jahren mit Athen gemacht hatte, zuletzt „geschwindelt“ habe. Als er 30 Jahre alt war, sah er das Gemeinwesen in vollständiger Verwirrung und konnte nicht anders fortleben, als indem er die Fragen seines Lehrers Sokrates immer weiter trieb – bis schliesslich jene Philosophie entstand, ,,die, bemisst man sie nur an der fortwirkenden Kraft, doch wohl die bedeutendste Hinterlassenschaft dieses Athens darstellt.“ (Meier).
Sokrates und Platon, beide wussten nichts von den neurobiologischen Erkenntnissen unserer Zeit. Wenn heute feststeht, dass unsere Gene als biologische Kooperatoren funktionieren, könnte man davon ableiten, dass Kampf und Krieg Überbleibsel alter Denkstrukturen sind? Dass der Mensch von Natur aus auf Kooperation hin „konstruiert“ zu sein scheint - könnte diese Erkenntnis eine epochal neue Lösungsformel generieren, ähnlich jener vor 2500 Jahren? Und damit das Erbe der antiken Denker erweitern? In der Neuzeit, Moderne, im 21. Jahrhundert? Lösung statt Konfrontation? Darüber mehr in einer späteren Kolumne.
1 Joachim Bauer (*1951), Prof. Dr. med. lehrt an der Universität Freiburg. Er ist Arzt für Innere Medizin, für Psychosomatische Medizin und für Psychiatrie und Psychotherapie.
2 Joachim Bauer: „Prinzip Menschlichkeit – Warum wir von Natur aus kooperieren“ (2008), Heyne.
3 Diese Schilderung basiert im wesentlichen auf den Büchern von Christian Meier: „Kultur, um der Freiheit Willen – Griechische Anfänge, Anfang Europas?“ (2009), Siedler und „Athen – Ein Neubeginn der Weltgeschichte“ (1997), btb.
4 Eva Maria Kaufmann: „Sokrates“ (2000), dtv.