Die Eidgenössischen Wahlen sind, nach monatelanger Laufzeit, endlich Vergangenheit. Die retuschierten Köpfe der Selbstdarsteller auf der helvetischen kleinbürgerlichen Bühne sind auf den Plakatwänden überklebt mit Werbebotschaften des kommerziellen Alltags der wahren Welt von heute. Die Namen der Schauspieler, ins Bundeshaus für vier Jahre gewählt, sind bekannt.
Helvetisches Theater
Die Resonanz der sechsmonatigen Aufführung stand in keinem Verhältnis zum Aufwand. Das Publikum, die 8,1 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner des Landes, hat unterschiedliche Reaktionen gezeigt: Von den 5,2 Millionen Wahlberechtigten haben viele mit Kopfschütteln und Unverständnis reagiert und mehr als die Hälfte (51,6%) zeigte überhaupt kein Interesse am inszenierten Spektakel. Als Sieger von der Bühne gingen die von rund 1,25 Millionen (15 Prozent der Bevölkerung) Gewählten.
Friedrich Dürrenmatt, der vor 25 Jahren die Schweiz als Gefängnis bezeichnete, in dem die Insassen Gefangene und Wärter gleichzeitig seien, sagte in jener berühmten, oft falsch verstandenen Rede zur Freiheit der Schweiz: „Aber dieser ganze statische Komplex der erstarrten, konzeptionslosen und politisch nur noch zweckbedingt handelnden politischen Massenparteien, die von professionellen Apparaten beherrscht werden und den Bürger von jeglicher konkreten und persönlichen Verantwortung entbinden, diese ganzen komplizierten Strukturen der versteckt manipulierenden und expansiven Zentren der Kumulation des Kapitals, dieses allgegenwärtige Diktat des Konsums, der Produktion, der Werbung, des Kommerzes, der Konsumkultur, diese ganze Informationsflut – all dies, schon so oft analysiert und beschrieben, kann man wahrhaftig nur schwer als eine Perspektive, als einen Weg betrachten, auf dem der Mensch wieder zu sich selbst findet.“
Darf man heute von einem Theaterstück sprechen, bei dem Inszenierende und Schauspieler einerseits, Applaudierende und Claqueure andererseits, sie alle alles gleichzeitig sind? Das Stück heisst „Wer mit wem?“ und handelt von verschmähten Prinzessinnen, Bauernopfern, Rattenfängern von Hameln, Strategen und strammen Parteisoldaten. Die Berichte der Siegerpresse – das Parteiblatt der FDP, die NZZ und jene der SVP, die Weltwoche und die BAZ – sind überschwänglich.
Doch die politischen Parteien haben nicht alle erfüllt. Ihre Aufführung spielte im letzten Jahrhundert, als weder Globalisierung, Internet, BIG DATA Themen waren. Die Requisiten der Parteistrategen und ihrer Marketing-Verantwortlichen sind abgetragen und vergilbt.
Vertrauensschwund in politische Parteien
Das Vertrauen in die politischen Parteien ist gering, verglichen mit anderen gesellschaftlichen und politischen Institutionen, und in letzter Zeit rückläufig. Eingeschriebene Parteimitglieder soll es weniger als 400‘000 geben, etwas gleichviele jedenfalls wie 1970, als das Land noch rund sechs Millionen Einwohner zählte.
Hielten 1988 die vier Parteien FDP, CVP, SVP und SP noch drei Viertel der Exekutivsitze in den Schweizer Gemeinden, so ist dieser Anteil 2009 auf 55 Prozent und seither noch weiter zurückgegangen. Klar stärkste politische Kraft in den kommunalen Exekutiven bilden heute die Parteilosen. Ihr Anteil ist in den letzten 15 Jahren um deutlich mehr als 10 Prozentpunkte angestiegen, was als weiteres Indiz für eine „Entpolitisierung der Lokalpolitik“ gewertet werden kann (Cahier de l’Idheap 265). Rund ein Drittel der kantonalen Exekutiven wird heute von Parteilosen eingenommen. Der Trend dauert an.
Auch dass wir (das Volk) in der Schweiz noch immer nicht wissen dürfen, wer mit wieviel Geld unsere politischen Parteien und deren Werbeetat speist, ist einer föderalistischen Demokratie zutiefst unwürdig. Diese fehlende Transparenz hat zur Folge, dass finanzstarke Kreise einen Machtgewinn der von der Medialisierung der Politik profitierenden Parteien (FDP/SVP) bewirken.
Folgen des parteipolitischen Dauerstreits
Obwohl, oder gerade weil in der Schweiz die Volksrechte stark ausgebaut sind, ist festzustellen, dass in letzter Zeit die Opposition gegenüber den Behörden zugenommen hat. Das verstärkt polarisierende Parteiensystem geht einher mit einem sinkenden Kooperationswillen. Die Stärkung der Polparteien führt zu einer „zentrifugalen Demokratie“. Diese Entwicklung lässt wenig Gutes erwarten (Adrian Vatter).
Die vermehrt auf Konfrontation ausgerichtet Parteienelite widerspricht fundamental dem bewährten schweizerischen politischen System, das ein kooperatives Verhalten der verantwortlichen Parteispitzen voraussetzt. Es ist gleichzeitig ein trauriger Rückfall der Verantwortlichen in jene vergangen geglaubten Zeiten, als Kampf als Profilierungsmittel verstanden wurde. Heute hat man in der westlichen Welt zum Glück eingesehen, dass Kooperationen weiterführen.
Beat Kappeler vergleicht in der NZZ am Sonntag Schweden mit der Schweiz. Mit einem Seitenblick auf die zerstrittene Schweiz sieht er die wahre Staatskunst zum Beispiel darin, dass in Schweden - mindestens dreimal in den letzten 20 Jahren - Opposition und Regierung zusammen standen, um in schwierigen Lagen gute Lösungen für die wichtigsten Reformen zu finden. Tragfähige Kompromisse bräuchte auch unser Land.
Brachliegende politische Reserven
Zwei grosse, von den politischen Parteien viel zu wenig genutzten Potenziale könnten mithelfen, ihre Verankerung im Volk zu stärken.
Da sind einmal die Nichtwählenden ganz allgemein. Also die Mehrheit der Wahlberechtigten. 41 Prozent von diesen sind politisch desinteressiert oder verdrossen, 38 Prozent müssen als inkompetente oder sozial isolierte Nichtwählende bezeichnet werden (UniPress). Zumindest die erste Gruppe, über eine Million, dürfte „abholbar“ sein. Deren geringe Parteiidentifikation ist parteipolitisch mitverschuldet, ein gewisses Interesse an der Politik ist da wohl vorhanden, was sich auch in Partizipation bei alternativen politischen Formen ausdrückt. Warum nicht mehr um diese Gruppe sich bemühen?
Die zweite grob vernachlässigte Gruppe besteht aus den unter 45-jährigen, insbesondere aber den Jungen ganz generell. So sind beispielsweise nur 17 Prozent der 18- bis 29-Jährigen jungen Erwachsenen bei der Masseneinwanderungsinitiative abstimmen gegangen. Bevor das Cliché der stimmfaulen Jungen bemüht wird, sollten die Ursachen dieses Verhaltens analysiert werden. Die fehlende Betroffenheit ist ein recht verständlicher Grund, der aber in Schulen und Parteizentralen gemindert werden könnte. „Die Parteien in der Pflicht“, titelt der TA im November 2015: Podiumsdiskussionen an höheren Schulen und Gymnasien als Beispiel, würden das Verständnis fördern. Allerdings müssten diese Chancen von den Parteien wahrgenommen werden, was bisher viel zu wenig geschieht.
Eine IEA-Studie zur politischen Bildung in der Schweiz und 23 weiteren Ländern stellt fest, „Jugendliche sind konventionellen politischen Aktivitäten (Parteipolitik, Wahlkampf, Leserbriefe etc.) gegenüber sehr skeptisch eingestellt. Demgegenüber besteht eine grosse Bereitschaft zu einem Engagement in zivilgesellschaftlichen Rahmen, beispielsweise für Umweltorganisationen oder Bürgerinitiativen. […] Das Vertrauen in Regierungsinstitutionen ist begrenzt. Das grösste Vertrauen bringen 14- und 15-jährige Jugendliche Gerichten und der Polizei entgegen. […] Politische Parteien geniessen das geringste Vertrauen.“
Die Welt verändert sich
Parteizentralen tun gut daran, zu beachten, dass sich unsere Gesellschaft in rapidem Wandel befindet. „Individualisierung, Wertewandel und Globalisierung führen die zentralen Institutionen von Staat, Demokratie und Markt zunehmend an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit und fordern die Notwendigkeit neuer Problemlösungs- und Bewältigungsstrategien ein“, schreibt Markus Freitag, Professor für Politikwissenschaft an der Uni Bern im SCHWEIZER MONAT.
Er verweist insbesondere darauf, dass das zivile Engagement der Bevölkerung in Vereinen erstaunlich hoch ist, dass gleichzeitig „die Facebook-Gruppe (auch Twitter), informative Forenbeiträge oder Blogs verfassen“ die Vorliebenstatistik im Internet anführt. In einer weiteren Tabelle ist nachzulesen, wie sich die Freiwilligentätigkeit in den letzten 20 Jahren entwickelt hat. Den unrühmlichen Schluss der Auflistung bilden „Politische Parteien und politische oder öffentliche Ämter.“
Diese Informationen und Daten zeigen mit aller Deutlichkeit auf, dass unsere politischen Parteien mehrheitlich noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen sind. Ihre Basisarbeit ist wenig zukunftskompatibel, die benutzten Medien oft nicht mehr zeitgemäss. Viele Parteiorganisationsstrukturen sind überholt. Unser Föderalismus hat Besseres verdient.