Wer bei uns Unterschriften für seine politischen Anliegen sammelt, benutzt dazu immer öfters elektronische Online-Plattformen. Spontan gewachsene Gruppen sehen sich so in der Lage, manchmal etwas träge politische Parteien herauszufordern. Damit verändern sich politische Landschaften und Mehrheiten. Noch mehr Initiativen und Referenden? Ob dieser Trend Gutes verspricht?
„Das Volk“ nimmt Gestalt an
Olivier Kessler und Marco Schäfer sind die Initianten der Online-Plattform „The People“. Über das Portal „We collect“ ist Daniel Graf aktiv und auch unter „Collectus“ werden neuerdings Unterschriften für politische Anliegen gesammelt. Diese Namen stehen wohl nicht zufällig an der Spitze einer rasanten Entwicklung. „Das Volk“ als Allerweltbegriff wird ja auch hierzulande schon seit Jahrzehnten in frappanter Unverfrorenheit dazu missbraucht, persönliche politische Anliegen als breit abgestützt zu legitimieren. „We collect the people“ („wir sammeln die Menschen“) – früher eine Aufgabe der politischen Parteien – gerät zusehends zu einem „Brutkasten der Demokratie“ (NZZ). Dabei wächst die Gefahr, dass sich finanzstarke Kreise noch mehr politischen Einfluss erkaufen.
Neue Volksmehrheiten gebären neue Leaderfiguren
Es braucht wenig Fantasie um abzusehen, dass sich mit dem Einbruch der digitalen Welt als unmittelbare Folge dieses Trends immer öfters spontan wechselnde, überraschende Mehrheiten bilden werden. Ob dies Entwicklung qualitätsverbessernd wirken wird ist allerdings ungewiss. Solange es bei Abstimmungen um Sachfragen geht, dürfte sich frischer Wind eher zugunsten progressiver Projekte auswirken. Geht es aber um Personenwahlen, sieht das Ganze etwas anders aus. Denn die populistischen Verheissungen begabter Demagogen begeistern bekanntlich die Massen, auch schweizerische.
Anschauungsunterricht bieten derzeit die USA und Italien. Mit Donald Trump (USA) und Mateo Salvini (Italien) surfen Populisten-Leader auf gewaltigen Popularitätswellen.
„Der gesunde Menschenverstand“
Trump und Salvini sind erstklassige Verkäufer. Ihr Erfolgsrezept: Sie verkaufen sich selbst unglaublich virtuos. Ihre Angebots-Palette, ihre Versprechen:
- Ich bin einer von euch, dem Volk
- Ich nehme eure Sorgen ernst
- Ich verstehe eure Ängste vor unkontrollierter Einwanderung, vor Auflösung familiärer und kirchlicher Traditionen, vor Digitalisierung und Globalisierung.
Beide, Trump und Salvini, identifizieren sich ausdrücklich mit dem Volk. „Ihr verfügt über den gesunden Menschenverstand!“ Solchermassen positioniert, klopfen sie den gebeutelten Männern und Frauen auf die Schultern. „Euer Misstrauen gegenüber denen da oben, den Eliten, ist mehr als berechtigt!“ Das Volk reagiert begeistert. Die Reaktion der Massen: „Das hat noch kein Präsident bisher gesagt. Keiner teilte unseren Kummer, unsere Frustrationen. Endlich haben wir den Führer, den wir so lange vermissten.“
Sie alle wählten Trump…
Werfen wir einen Blick auf die USA: Sie alle haben ihn gewählt, Donald Trump. Sie wohnen - als Beispiel - tief unten im Süden, im Bundesstaat Louisiana, also im Zentrum der amerikanischen Rechten. Es sind frustrierte Menschen, deren amerikanischer Traum längst geplatzt ist. Sie sind aufgewacht aus diesem Traum und erleben jetzt die „Ent-Täuschung“. Sie fühlen sich abgehängt, hassen den Staat (resp. das staatliche „Establishment“) und haben sich schon vor Jahren der rechtspopulistischen Tea-Party angeschlossen. Ihre Nachrichtenquellen beschränken sich ausschliesslich auf Fox News – der TV-Sender läuft non Stopp von morgens bis nachts. Die meisten von ihnen sind treue Kirchengänger. (Die National Association of Evangelicals vertritt dreissig Millionen Mitglieder, die einen Viertel der amerikanischen Wähler ausmachen).
…weil sie sich verraten fühlen
Sie fühlen sich vom Staat und der Industrie verraten, die sie für ihren empfundenen Verlust an Ehre und Anerkennung verantwortlich machen. Ihre ehemaligen Arbeitgeber, die grossen Industriekonzerne, sind längst verschwunden, leere Fabrikhallen zeugen von einstigem Glanz, inzwischen ist die Produktion in den fernen Osten ausgelagert worden. Hinterlassen haben Firmen eine gigantische Umweltzerstörung. Globalisierung eben. Somit bleibt als Feindbild nur der Staat.
Salvini, in Berlusconis Fussstapfen
Zurück zu Italien: Wer den gegenwärtigen Hype um Salvini verstehen will, muss sich gedanklich 25 Jahre zurückbesinnen. Damals betrat ein Silvio Berlusconi mit seiner „Forza Italia“ die Politbühne. Er begründete sehr erfolgreich die Instrumentalisierung des Begriffs „das Volk“ („L’Italia è il paese che amo“) indem er grandios verkündete, den Willen des Volkes zu kennen und zu repräsentieren.
Jahre später, inzwischen war Berlusconi rechtskräftig verurteilt worden, erhielt der Fernsehkomiker Beppe Grillo fast über Nacht Berühmtheit mit seiner Politbewegung „Cinque Stelle“. Er distanzierte sich von den politischen Parteien. Sein Versprechen: Abschaffung der korrupten Kaste von Berufspolitikern und Bürokraten, die sich auf Kosten des Volkes bereicherten.
Heute präsidiert Giuseppe Conte von den „Cinque Stelle“ zusammen mit der Lega Nord die Regierung; populärer Innenminister ist Matteo Salvini. Er ist klar der Star der Regierung, auf Facebook zählt er 3,5 Millionen Follower. Somit hat Italien eine 25-jährige geschichtliche Erfahrung mit dem Phänomen Populismus und wer heute in Europa verständnislos den Kopf schüttelt über die Zustände in Italien muss versuchen, die langen Jahre der desillusionierenden Zustände einer abgehobenen Politikerkaste in Rom (mit den höchsten Vergütungen aller europäischen Länder) und den im Volk angerichteten Schaden zu berücksichtigen. Doch im Gegensatz zu Berlusconi identifiziert sich Salvini mit den Menschen, die ihm zujubeln. Endlich, so glauben diese, haben sie den starken Führer gefunden, der sie aus ihrer Misere befreien wird.
So entstehen neue Mehrheiten
In diesem Moment der Hoffnungslosigkeit kommt endlich der grosse Führer (hier Trump, dort Salvini) und gibt diesen Leuten ihre Würde zurück. Er erklärt ihnen, dass sie unverschuldet in ihre Misere geraten seien. Und dass sie getrost ihn wählen können: Nach seiner Wahl würde alles besser werden.
Offensichtlich meldet sich hier „das Volk“ zu Wort, ein bisher schweigendes Volk, Menschen, die sich in den letzten Jahren, ja Jahrzehnten resigniert abgewendet haben von der politischen Bühne.
Was kommt auf die Schweiz zu?
„Die Schweiz ist nicht mit den USA oder Italien vergleichbar!“ Natürlich nicht. Doch viele Trends aus Amerika werden auch bei uns mit entsprechender Verspätung übernommen. Und Italien? Der Einfluss der Mode auch bei uns ist jedenfalls nicht zu leugnen.
Werden wir gerade Zeitzeugen, wie sich neue Mehrheiten etablieren? Können wir das verstehen? Würden wir uns in einer vergleichbaren Situation gar ähnlich verhalten? Und was werden die Folgen dieses drastischen Wandels sein?
Vor allem unsere politischen Parteien sind gefordert. Der alte, „analoge“ Politbetrieb verliert sein Fundament. Der digitale Einfluss gräbt das Terrain um, von unten nach oben („Grass root“ - Bewegungen). Eine neue Generation ambitionierter politischer Leader-Figuren wird übernehmen. Hoffentlich bleiben uns Populisten erspart.