Fokus Universität St. Gallen
Wer sich für das Spannungsfeld zwischen Wirtschaft und Lehre der Natur interessiert, beginnt zum Beispiel in St. Gallen an einer der führenden Wirtschaftsuniversitäten Europas (HSG). Diese schreibt:
Verantwortung und Nachhaltigkeit an der HSG
«Die Universität St. Gallen verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz zur Integration von Verantwortung & Nachhaltigkeit in alle unsere Aktivitäten. In den HSG-Leitsätzen bekennen wir uns dazu, zur Bewältigung der Herausforderungen von Verantwortung & Nachhaltigkeit in Wirtschaft und Gesellschaft beizutragen» (https://www.unisg.ch/de/universitaet/ueber-uns/portraet/nachhaltigkeit).
Die auf Nachhaltigkeit in der Wirtschaft fokussierte Gruppierung der Studierenden und Ehemaligen schreibt:
«Wir sind oikos
Wie wollen wir gemeinsam leben, führen und lernen für eine blühende, nachhaltige Zukunft?
Unsere Community von studentischen Change Agents arbeitet daran, die Management- und Wirtschaftsausbildung für Nachhaltigkeit zu transformieren. Wir sind seit 1987 im Gespräch.»
Die Community zählt 1200 Mitglieder und 10'000 Ehemalige in 20 Ländern und 50 Städten (https://oikos-international.org/).
Diese beiden Bekenntnisse stehen als Einführung in die Thematik des Einflusses beider Hirnhälften.
Zwei unterschiedliche Gehirnhemisphären
Es mag überraschen, in diesem Beitrag die aktuellen Diskussionen zu den Auswirkungen der globalen Wirtschaft auf die Klimaerwärmung mit dem Einfluss der rechten und linken Hälfte des Klein- und Grosshirns zu thematisieren. Es ist das Verdienst von Iain McGilchrist (*1953), Autor des Buches «The Master and His Emissary»¹ («Der Meister und sein Gesandter»), dass diese Thematik heute breit diskutiert wird. In seinem Buch geht McGilchrist der Frage nach, wie weit die westliche Kulturgeschichte vom Phänomen eines unaufhaltsamen, ja sich beschleunigenden Anstiegs des Denkens und Verhaltens der linken zulasten der rechten Gehirnhälfte getrieben wird.
«Die beiden Gehirnhälften halten unterschiedliche Wege aufrecht, sich um die Welt zu kümmern, und obwohl beide von Vorteil sind, leben sie in Spannung zueinander», schreibt der Nachhaltigkeitsexperte Duncan Austin.² Der grundlegende Unterschied: die Neigung des linken Gehirns, zu teilen, im Vergleich zur Fähigkeit des rechten Gehirns, die Dinge ganzheitlich zu sehen. Tatsächlich konstatieren wir diesbezüglich eine Trennlinie zwischen rivalisierenden Fähigkeiten, wie wir die Welt wahrnehmen – dualistisch oder ganzheitlich.
Ist in unseren Breitengraden das wirtschaftliche Denken so tief verwurzelt – Wirtschaftswachstum ist das Credo –, dass wir nicht realisieren, dass diese Form des wirtschaftlichen Denkens eine der Hauptursachen der Klimaerwärmung ist und dass deshalb die globale Umwelt geschützt werden muss? Zwar werden Anstrengungen sichtbar, dieses Problem anzugehen (internationale Klimakonferenzen), doch auch in der Schweiz ticken viele Menschen ganz anders und ignorieren Fakts und Zusammenhänge (Ablehnung des CO2-Gesetzes an der Urne). Nachhaltiger Kapitalismus und grünes Wachstum bleiben so Fiktion.
Gedanken zu Wirtschaft und Ökologie
Duncan Austin sorgt sich darüber, dass das wirtschaftliche Handeln unserer Zeit noch immer nicht zur Erkenntnis führt, welche Art von Denken Ökologie ist. Während die Ökonomie sich auf Teile des Ganzen konzentriert, um situativ Probleme zu formulieren, die in der Folge (durch Unternehmen) elegant gelöst werden können, ist es das Ziel der Ökologie, alles im Auge zu behalten. Dieser Anspruch wiederum ist für die Ökonomen unpraktisch, also wählen sie Teile, auf die sie sich spezialisieren («Aushängeschilder») und wo sie die Marktführerschaft anstreben. Aktuelles Beispiel ist die Autobranche, die sich auf Design, Leistung und Verbrauchswerte ihrer Produkte konzentriert, ungeachtet der negativen Folgen für die Umwelt und das Klima.
«Ökonomie und Ökologie bestehen in einer verschachtelten Beziehung zueinander. Wirtschaft ist das Management einer kleinen Nische der Natur, während Ökologie das Studium der ganzen Natur ist», sagt Duncan. Die Welt als trennbar zu betrachten veranlasst die Ökonomen, Teile zu optimieren. Dagegen ist der Ökologe bemüht, seine Sicht des «Alles ist mit Allem verbunden» den Menschen begreifbar zu machen. Es ist nachvollziehbar, dass diese beiden Wahrnehmungsweisen dazu führen, verschiedene Dinge zu sehen und letztlich unterschiedliche Einstellungen zur Welt zu bekommen.
Es ist offensichtlich, dass das Streben der Ökonomen, die Welt (ihre Welt) punktuell zu verbessern, um sie bequemer zu machen, dem Ziel folgt, dass dieses «Immer mehr, immer besser» im pathologischen Extrem mündet, sich die Welt untertan zu machen, sie zu «kontrollieren». Bemerkung des Autors: Die Covid-19-Pandemie hat einmal mehr gezeigt, dass dieses Unterfangen scheitern muss.
Der Trugschluss des Reduktionismus
«Die isolierte Betrachtung von Einzelteilen ohne ihre Verflechtung in einem Ganzen», so lesen wir im Duden – der Reduktionismus –, ist für McGilchrist die Wurzel des Übels. McGilchrist ist eine Art Kombination aus Neurowissenschaftler und Geisteswissenschaftler und wohl deshalb in der Lage, ganzheitlich zu denken, auch in Gebieten, in denen dies nicht erwartet wird. Er argumentiert, dass der Reduktionismus die Welt in eine Art von Trugschluss, eine «Falle», geführt hat.
Immer mehr setzt sich in der Wissenschaft die Meinung durch, dass komplexe Dinge auftauchende Eigenschaften aufweisen, die auch bei vollständiger Kenntnis aller Teile nicht erwartet werden, sondern sich nur aus der Beobachtung des Ganzen erklären lassen. Die gleiche Meinung vertritt übrigens auch der brillante Physiker Robert Laughlin, *1950³, der in seinem Buch «Abschied von der Weltformel – Die Neuerfindung der Physik» meinte: «Wir leben nicht in der Endzeit der Entdeckungen, sondern am Ende des Reduktionismus, einer Zeit, in der die falsche Ideologie von der menschlichen Herrschaft über alle Dinge mittels mikroskopischer Ansätze durch die Ereignisse und die Vernunft hinweggefegt wird.»
Auch andere Wissenschaftler äussern sich in dieser Richtung. Sie sind der Meinung, dass die grössten Probleme in der Welt das Ergebnis des Unterschieds zwischen der Funktionsweise der Natur und der Art und Weise, wie die Menschen denken, sind. Anders gesagt: Das heutige Marktsystem («Der Markt regelt alles») ist ein Werk der linken Hirnhemisphäre. Doch die Natur dieses Systems – indem es physische Grenzen nicht erkennt und unvollständig ist – ist gleichzeitig seine Schwäche. Wenn also Menschen (z.B. Manager, CEOs, Verwaltungsräte), die dieses unvollständige Primat des Marktes befürworten, verkennen, dass ihr «Betriebssystem» gefährlich ist und sie von der zugrunde liegenden Realität abbringt.
Was bedeutet «Fortschritt»?
Die Renaissance des 17. Jahrhunderts gilt als Epochenwandel. Diese «Aufklärungszeit» basierte auf der Vernunft, auf neuen Erkenntnissen (auf Basis der Wiederbelebung alter Weisheiten), auf kühnen, neuen Ideen grosser Denker, die der westlichen Welt einen gewaltigen Fortschrittsschub einbrachten. Doch da setzt die These der weiter oben erwähnten Intellektuellen ein: Die Vernunft, auf der dieser Fortschritt beruhte, basiert auf einer quantitativen wissenschaftlichen Methode. Dies wird durch die These bestätigt: «Lasst die Menschheit das Recht über die Natur wiederherstellen, das ihr durch göttliches Vermächtnis gehört», wie Duncan zitiert. (Altes Testament: «Seid fruchtbar und mehrt euch, füllt die Erde und unterwerft sie und waltet über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die auf der Erde kriechen!»).
In diesem quantitativen Paradigma gefangen, dämmert es heute da und dort, dass eine Verbesserung des Verhältnisses Ökonomie/Ökologie keine quantitative Aufgabe, sondern eine qualitative sein muss.
Einschub: Was nichts kostet, ist nichts wert
Repräsentativ für diese weltweite unvollständige und fatale Situation ist das «BIP» (Bruttoinlandsprodukt), das «die Produktion von Waren und Dienstleistungen im Inland nach Abzug aller Vorleistungen ...» ermittelt und global vergleicht. (Die Schweiz landet auf dem zweiten Rang im weltweiten Pro-Kopf-Vergleich.) Doch nur was etwas kostet, das gemessen werden kann, wird überhaupt berücksichtigt, was nichts kostet, ignoriert. So werden die Rodung des brasilianischen Urwalds (Maschinen kosten, Bäume werden verkauft) oder die weltweiten Verkehrsunfälle (die gewaltige Folgekosten auslösen) im BIP aufaddiert. Umgekehrt «kostet» die Umweltverschmutzung theoretisch nichts und wird im BIP nicht berücksichtigt.⁴
Die Regierungen aller Welt nutzen diese «objektiv gemessene» Wirtschaftsleistung als Mass aller Dinge, vor allem als Erfolgsmassstab zur Beurteilung der nationalen Leistungsfähigkeit. Auch die Börsenperformance basiert auf dem gleichen System, denn Gewinne und Verluste sind schliesslich in Zahlen messbar.
Schlussfolgerung: Aus dem Gleichgewicht geraten
Unsere Nachhaltigkeitskrise manifestiert sich in steigenden Meeresspiegeln, schrumpfenden Wäldern, ausgetrockneten Ländereien und katastrophalen Brandkatastrophen und einer schwindenden Artenvielfalt. Parallel dazu hat unsere kollektive Fähigkeit, nach Kriterien zu handeln, die dem Prinzip «Profit ist der Erfolgsausweis» zuwiderlaufen, abgenommen. Es scheint schwierig zu überzeugen, dass wir unsere Umwelt aus moralischen und nicht nur aus monetären Gründen schätzen und schützen sollten.
Die Welt ist aus dem Gleichgewicht geraten. Deshalb plädieren Iain McGilchrist und Duncan Austin für eine Neuausrichtung unserer «zivilisatorischen Führung». Darunter könnten sie sich vorstellen, dass die etablierten Zentren der Ökonomie (Universitäten) in einer Art Neubewertung ihrer Disziplin vorangehen müssten: die systemische Neubewertung der Ökonomie (sie nennen das «Systemischer Frühling») unter Einschluss der ökologischen Folgen. Sie müssten das Denken und Handeln auf diese Weise weit über ihre Grenzen hinaus anregen.
Duncan kann sich vorstellen, dass ein solcher Schritt bald einmal eine Reputationsnotwendigkeit darstellen könnte. Auch wenn der Weg hart sein dürfte, stehen die Wirtschaftsabteilungen der Welt und die wirtschaftsbasierten Business Schools vor einer eigentlichen Herausforderung für Vermächtnis und Glaubwürdigkeit. Nur das Denken über die Komplexität mehrerer Disziplinen führt weiter. Es wird ermöglicht durch das Modellieren und Verstehen komplexer Systeme auf der Basis von Computersimulationen, die ja immer schneller und billiger werden.
McGilchrist argumentiert, dass viele unserer heutigen Probleme darauf zurückzuführen sind, dass das linke Gehirn seine Abhängigkeit von einem grundlegenden rechten Gehirn missachtet. Er folgert aus dieser Dynamik, dass die Ökonomie ihre Abhängigkeit von sozialen und ökologischen Grundlagen aus den Augen verloren hat.
Abschliessend formuliert Duncan seine Vision: «Wie dem auch sei, der erste Punkt, der die Schüler einer Schule für Ökologie und Ökonomie beeindrucken mag, ist, dass die beiden Disziplinen unterschiedlicher Natur sind, weil sie zwei verschiedene Arten des ‹Besuchens der Welt› darstellen, die beide wertvoll sind. […] Solange unsere Kultur nicht klarer über die Bedeutung ihres Unterschieds ist, werden wir keine erfolgreichen Verwalter des globalen Ökosystems sein.»
Zurück zum Beginn dieses Beitrags: Die angestrebte Transformation der heutigen Management- und Wirtschaftsausbildung auf die Basis Nachhaltigkeit ist ein wertvoller Anfang. Mit wohlklingenden Ankündigungen der angesprochenen Universitäten ist es aber noch nicht getan.
¹ Iain McGilchrist: «The Master and His Emissary», 2009 (Yale University Press)
² Duncan Austin: «The Matrix of the Emissary - Market Primacy and The Sustainability Crisis», Mai 19, 2021 (Channel McGilchrist)
³ Robert Laughlin: «Abschied von der Weltformel – Die Neuerfindung der Physik», 2009 (Piper)
⁴ Christoph Zollinger: «Notizen eines Unverbesserlichen», 2021 (Conzett Verlag)