„Linke“ und „Rechte“ versuchen in den westlichen Demokratien, sich gegenseitig zu diskreditieren. Offensichtlich hassen sich in den USA Demokraten und Republikaner gar. Die etwas einfältige Ansicht, nur das eigene Weltbild sei das richtige, hat dazu geführt, dass Blockaden und Streit den Politalltag prägen. Die Menschen sind, die Gesellschaft ist – desillusioniert.
Die politischen Debatten produzieren zu oft heisse Luft statt Erleuchtung. Da liebäugelt Präsident Hollande in Frankreich allen Ernstes mit einer Einkommenssteuer von 75%, dort plädieren politische Leader für eine solche von 10%. Ideenlos, das Ganze. Noch immer haben die Einen nicht begriffen, dass Unternehmergeist gefördert, statt abgewürgt werden muss. Die andere Seite verschliesst die Augen davor, dass wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft gefährliche Sprengkraft zu entwickeln droht. Die Zeit scheint gekommen für eine pragmatische Mitte-Politik.
Ihr Ziel: eine fairere Gesellschaft und Förderung des freiheitlichen Unternehmergeistes. Um das zu erreichen, müssten sich alle beteiligten politischen Kräfte bis auf die Mitte der Brücke entgegenkommen. Im angelsächsischen Raum heisst das: True Progressivism1. Und bei uns? Die wörtliche Übersetzung – etwa wahre Fortschrittskraft – verheisst nichts Gutes. Zu unterschiedlich wird Fortschritt definiert. Wie wär’s mit „Brückenbauer“?2 Jedenfalls ist die Golden Gate Bridge3 in San Francisco, jenes architektonische Wunderwerk, auch 75 Jahre nach Erstellung orangenrot leuchtendes Symbol dafür, was Menschen gemeinsam erreichen könnten.
Die politischen Parteien4 wären also gefordert. Doch, Europäer und Amerikaner wenden sich in Scharen ab von ihnen. Die Mitgliedschaft ist nicht mehr erstrebenswert. Nicht erstaunlich, fällt ihre Zahl seit rund 30 Jahren überall in den westlichen Demokratien. Jetzt scheint sich der Schwund noch zu beschleunigen. „People have many reasons for falling out of love with parties.” 5
Die interessierte Welt schaut fassungslos auf die USA, wo im Dezember 2012 beim Haushaltsstreit einmal mehr ein eigentlicher Glaubenskrieg – der Gipfel der Irrationalität – wütete. Beim kriselnden politischen System in Washington zeichnen sich vorab die Republikaner dadurch aus, dass sie Dogmatismus und Extremismus als politische Linientreue praktizieren. Dabei wird hemmungslos das Gemeinwohl des Landes den Parteiinteressen nachgeordnet. Während den Hardcore-Rechten dieser Kurs gefallen mag, fühlt sich doch eine Mehrheit der Wählenden davon abgestossen. Vergessen – oder geopfert – wird mit dieser zerrütteten politischen Kultur, dass gerade das amerikanische System auf Kooperation und Überparteilichkeit ausgerichtet angewiesen ist.
Präsident Obama reagiert: Via Twitter, Facebook und mit E-Mails wendet er sich direkt an die Wählerinnen und Wähler. Auf dem Twitterkonto des Weissen Hauses können frustrierte Menschen draussen im Volk ihrem Unmut Luft machen. Damit werden sie die Hauptverbündeten des Präsidenten, als Gegengewicht zu jenen Abgeordneten im Abgeordnetenhaus, die von der Tea-Party oder milliardenschweren Lobbyisten gesteuert werden.
In unserer globalisierten Welt glauben offensichtlich immer weniger Stimm- und Wahlberechtigte, dass die Politiker ihre Probleme wirklich lösen könnten. Während der Individualismus steigt, sinkt gleichzeitig der Zugehörigkeitsbedarf zu einer politischen Partei. Vergleichbar ist dieser Trend durchaus mit dem Mitgliederschwund in Gewerkschaften oder Kirchen.
Ein Hauptgrund für diese Entwicklung ist das Internet. In der Schweiz verdrängt es immer mehr die Printmedien: Parteiblatt, Gewerkschaftszeitung, Kirchenbote sind out. (Da erstaunt es nicht wirklich, dass ausgerechnet jetzt in der Schweiz die SVP wieder einmal versucht, das Rad der Zeit zurück zu drehen. In einem Anflug von Verzweiflung und mit einer Auflage von 2,3 Millionen beschenkte uns im November 2012 der rückwärts orientierte Übervater mit seinem „Extrablatt“. Will da jemand den Kommunikations- und Mentalitätswandel nicht zur Kenntnis nehmen? Glücklicherweise lässt sich in unserem Land auch mit vielen Millionen harter, überbewerteter Schweizerfranken Wahl- und Abstimmungserfolg nicht kaufen). Jedenfalls kommentiert eine Tageszeitung diesen Trend kurz und bündig: „Die Parteien politisieren an ihren Wählern vorbei“ 6.
Wer Ende 2012 einen Blick auf die politische Landkarte der Schweiz warf, auf der das Abstimmungsverhalten im Nationalrat analysiert wurde, stellte fest: Die Mitteparteien zwischen den Lagern links und rechts nahmen deutlich mehr Platz ein als in früheren Jahren. Zunehmend spielen sie das Zünglein an der Waage. Die Parteiideologen verlieren an Terrain.
Offensichtlich manifestiert sich die Neuzeit durch eine Vielzahl politischer Stossrichtungen und Aktivitäten. Es formieren sich Interessierte ausserhalb der etablierten Parteien, um sich Gehör zu verschaffen. Politische Parteien sind „old technology“, so ein Professor der University of California. Internetseiten orientieren ohne Zeitverlust; Blogging, Twitter sind spannend und direkter als Parteiversammlungen. Zudem reduziert das Internet die Organisationskosten, etwa für eine Parteizentrale. Warum einer Partei beitreten, wenn man online eine Petition unterzeichnen kann?
Eine interessante Begleiterscheinung des abnehmenden Einflusses der politischen Parteien ist in der EU zu beobachten. In Krisenländern werden Technokraten mit unbefleckter Weste zur Lösung der Probleme an die Spitze der Regierungen gesetzt. Die Politiker haben zu lange versagt. Diese Erosion der Parteien gibt dem Geschichtsprofessor Paul Nolte zu denken. Er befürchtet, der Trend zur Expertokratie könnte die Demokratien gefährden. Wenn die Parteien nicht mehr in der Lage sind, die Wähler hinter sich zu scharen – wie soll dann ein funktionierender Parlamentarismus stattfinden, fragt er nicht zu Unrecht.
Wie meistens, wenn vertraute Systeme in Krisen geraten, ist es hilfreich, Zeichen des Neuen zu erkennen. Das Engagement der Bürger gestaltet sich im Gefolge der Social-Media-Revolution neu. Zivile Bewegungen, Bürgerforen, Parteilose, Medien formieren sich auf virtuellen Plattformen. Moderne Zivilgesellschaften erhalten neue Organisationsformen. Sofern deren Aktiven sich nicht aus egoistischen Eigeninteressen, sondern für die Sache, für Dritte engagieren, beobachten wir ganz einfach eine veränderte Demokratietheorie. Sie setzt darauf, dass „diese individuellen Interessen sich dann im Parlament zu einem Gesamtinteresse formen. Wenn die Menschen nun vermehrt für die Interessen Dritter eintreten – für sozial Schwächere in der eigenen Gesellschaft, für arme Länder, für die Natur, für künftige Generationen -, dann entsteht daraus ein anwaltschaftliche Demokratie.“7 Dies sind die Symptome der Erneuerung.
In Deutschland ist Joachim Gauck 2012 zum Bundespräsidenten gewählt worden. 2005 befragt, ob er nicht ein politisches Amt übernehmen wolle, meinte er: „Als Parteiloser, der sich als linker, liberaler Konservativer versteht, sehe ich mich nicht als Abgeordneten einer Partei im Bundestag.“
Werden wir in Zukunft erleben, dass politische Parteien durch Gruppen gleich gesinnter, engagierter Bürgerinnen und Bürger konkurrenziert, ja verdrängt werden? Das wäre dann gleichzeitig ein Anfang zur Enthierarchisierung der Politik und damit eine Parallele zur Entwicklung in Kirche oder Wirtschaft. Politik um der eigenen Macht willen, diese weit verbreitete Motivation, darf durchaus Platz für ein lösungsorientiertes Engagement machen.
1 The Economist, October 13th 2012, Special Report WORLD ECONOMY: “True Progressivism”.
2 Nicht umsonst nannte Gottlieb Duttweiler die Wochenzeitung der MIGROS „Wir Brückenbauer – das soziale Kapital“. Sozial und Kapital war für den grossen Schweizer eine Einheit, sozusagen das Kapital einer Nation.
3 Die Golden Gate Bridge wurde 1937 in Zeiten der Depression dank privater Initiative und mutiger Politiker, die ihre Eigeninteressen zurückstellten, erbaut.
4 Politische Partei: Politische Organisation mit gleichen politischen Überzeugungen und Zielen.
5 The Economist, August 4th 2012: „Lonely at the top“. Die Menschen kündigen aus vielen Gründen ihre Liebe zu den Parteien.
6 TA vom 23. November 2012: „Die Parteien politisieren an ihren Wählern vorbei“.
7 TA vom 15. März 2012: „Es gibt keine Verfallskurve der Demokratie“.