Wer es in der Schweiz wagt, deren föderalistischen Strukturen zu kritisieren, muss sich warm anziehen. Daher gleich zum Anfang meine Garantieerklärung: ich will weder das System der Gemeindeautonomie, noch einzelne Kantone abschaffen. Dennoch wage ich es einmal mehr, darauf hinzuweisen, dass sämtliche grossen politischen Reformprojekte, die diesen Namen verdienen, in den letzten Jahrzehnten chancenlos blieben oder abgelehnt wurden. Noch provokativer: die letzte grundlegende Reform der Schweiz kam von aussen, Ende des 18. Jahrhunderts, durch Napoleon diktiert. (Sie mündete in der neuen Bundesverfassung von 1848). Die nächste sollte uns nicht von aussen aufgezwungen werden.
Gute Zeiten, schlechte Zeiten
Das atemberaubende Tempo des globalen Wandels zu Beginn des 21. Jahrhunderts verunsichert, ja ängstigt. Bewährte Traditionen scheinen überlebt, das Fundament vieler lieb gewordener Institutionen bröckelt. Selbstverständliche Ordnungen geraten durch äussere und innere Einflüsse ins Wanken. Verteilungskonflikte öffnen sich. Ideologische Politkonzepte, angepriesen durch begabte Demagogen, gewinnen an Zustimmung. Gefährliche Fassadenrisse am Bundeshaus werden sichtbar und gefährden dessen Stabilität. Nach Jahrzehnten gemächlichen Dahinplätscherns des „courant normal“ bläst der Westwind aus Kalifornien über den Atlantik und überzieht den Horizont mit drohenden Wolkentürmen: Robotik, intelligentes Internet, Algorithmen, Massenarbeitslosigkeit heissen die dunklen Gewitterzellen.
Wer in dieser Situation das Glück in der Vergangenheit sucht, wer beharrlich seinen Illusionen des „Sonderfalls“ nacheifert und mit einstmals gut funktionierenden, konservativen Rezepten die Lösung der international übergreifenden Problemherde suggeriert, wer so politisiert, verdrängt, dass wir in stürmischen Zeiten leben und die lieb gewordene Bedächtigkeit des Schweizerischen Alltags Vergangenheit ist. Die beschleunigte Zukunft verlangt andere Ideen.
Illusionen nach zu träumen, ist tückisch. Einerseits werden sie geschürt mit leeren Versprechen durch jene, die sich dadurch Machterhalt erhoffen, andererseits werden diese geglaubt durch eine träumerische Gefolgschaft. Nicht selten will diese gar nicht „wissen“, wie es um die Grundprobleme wirklich steht – klassischer Selbstbetrug.
Deshalb plädiere ich für einen generellen Perspektivenwechsel: Fokus auf die Zukunft statt Verharren in der Vergangenheit. Das Ganze wird spannend!
Gemeinden in Not
Noch immer zählt die Schweiz 2294 Gemeinden, im Jahr 2000 waren es 2899. Doch immer deutlicher wird klar, dass Hunderte von (Klein-) Gemeinden je länger je mehr in die Bredouille schlittern, weil sie nicht mehr in der Lage sind, ihre Aufgaben autonom zu erfüllen. Damit gerät das urschweizerische liberale System der dezentralen Entscheidungsfindung an der Basis, nahe bei den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern zu treffen, ins Wanken. Wie Avenir Suisse letztes Jahr nachgewiesen hat, zeigen sich die Grenzen unseres hochgelobten Milizsystems am deutlichsten auf Gemeindeebene. „Diese haben Mühe, ihre Behörden überhaupt zu bestellen. Auch punktuelle Reformen wie eine höhere Entlöhnung, die Reduktion der Belastung oder die Schärfung des Aufgabenprofils konnten bisher wenig ausrichten.“
Damit wird klar, dass der Stern des helvetischen Ideals der Nebenberuflichkeit und Ehrenamtlichkeit am Verglühen ist. Gesamtschweizerisch sinkt die Beteiligungsbereitschaft der Menschen laufend, innert der letzten sechs Jahre ist er von 26% auf 20% der erwachsenen Bevölkerung gesunken, eine Tendenzumkehr ist weit und breit nicht auszumachen.Die Folgen dieser bedauerlichen Tatsache: Immer mehr Gemeinden sind gezwungen, einzelne Ausgaben in Gefässe der interkommunalen Zusammenarbeit (IKZ) – oder, schlimmer, in private Dienstleister auszulagern, was ein klares Demokratiedefizit und Verlust an Steuerungskompetenz bedeutet. Dafür höhere Kosten. Eine weitere Folge zeichnet sich bereits ab: sind Gemeinden nicht mehr in der Lage, ihre Aufgaben zweckmässig zu erfüllen, werden diese schlussendlich beim Kanton zentralisiert.Damit erreichen jene Kreise, die sich stur gegen Fusionsideen wehren, mittelfristig das Gegenteil dessen, was sie zu verteidigen suchen. Sie tun der Gemeindeautonomie einen Bärendienst. Denn längst ist es offensichtlich, dass rund 900 Gemeinden die optimale Grösse darstellen würden, den einmaligen und so wertvollen Zweck unseres Föderalismus zu garantieren. Beim bisherigen Reformtempo wäre das dann im Jahr 2053.Headhunter sucht Gemeinderäte
Es ist kein Witz. Wie die ZEIT im Februar 2016 zu berichten wusste, suchen fünf der zehn Gemeinden des Linthgebiets einen Gemeindepräsidenten. Sie gehören damit zu den 60% aller Schweizer-Gemeinden, die in der gleichen, ungemütlichen Lage sind. Wenn gesamthaft im Land noch immer 40‘000 kommunale Ämter zu besetzen sind, wird die Situation von Monat zu Monat kritischer. Wird dann mit Ach und Krach doch noch eine passende Kandidatin, ein passender Kandidat gefunden, ist noch lange nicht garantiert, dass sie oder er das nötige Format aufweist. Eine unwürdige Entwicklung.
Sinnvolle Fusionsförderung
Statt sich gegen Gemeindezusammenschlüsse zu wehren, wäre es weit sinnvoller und zeitgemässer, solche aktiv zu fördern, bevor aus eigentlichen Notsituationen heraus überstürzt gehandelt werden muss. Heute ist festzustellen, dass Rekrutierungssorgen und Finanzprobleme den Fusionsfahrplan diktieren – vergleichbar mit Betrieben, die erst bei drohendem Konkurs versuchen, das Steuer herumzureissen.
Verschiedene Kantone haben deshalb begonnen, mit Anschubfinanzierungen einen sanften Druck nach unten auszuüben. Sie haben es nicht leicht, denn durch Fusionen werden Gemeindepräsidenten und Gemeinderäte buchstäblich ihres eigenen Jobs beraubt – sie wehren sich deshalb auch vielerorts vehement gegen solche Absichten. Dass auch die grossen Finanzkraftdisparitäten Fusionen verhindern, auch das ist längst bekannt. Warum sollte eine reiche Gemeinde ihren ärmeren Nachbarn die Hand reichen?Kantonale Sorgenfalten
„Vermutlich ist die Zeit noch nicht reif für die Folgerung, dass Kantonsfusionen dazu dienen könnten, der unteren Staatsebene wieder jenen Grad an wirklicher Autonomie und Handlungsfreiheit zurückzugeben, über den sie 1848 verfügt hatte und durch den manche Konkordate überflüssig würden“, schrieb im November 2014 die NZZ. Mit anderen Worten: die vor 168 Jahren gezogenen Kantonsgrenzen sind schlicht ein Tabu, als wäre seither der Welten Lauf stehen geblieben. Vielleicht täte es gut, den globalen und digitalen Realitätsdruck zur Kenntnis zu nehmen? Nach 168 Jahren?
Etwas im Land ist nicht mehr im Lot, wer will, kann das seit Jahren feststellen. Die endlose Diskussion um einen „gerechten“ Nationalen Finanzausgleich (NFA) zeigen eines: kantonale Steuerhoheit ist unantastbar, aber bitte „subventioniert“ durch freundeidgenössische Nachbarn. Dass unsere Kinder in einem Kanton zwei Fremdsprachen lernen müssen, dies aber im Nachbarkanton absolut unzumutbar ist – Thema für die Basler Fasnacht. Still und leise werden laufend – und verständlicherweise – kantonale Aufgaben nach oben an den Bund delegiert, zur „Erledigung“ oder zumindest Koordination, dies zeigt mit aller Deutlichkeit, dass die politischen und funktionalen Räume nicht mehr übereinstimmen.Direktorenkonferenzen (alle 26 Kantone sind beteiligt) tagen regelmässig, um kantonale Interessen zu verteidigen oder es zumindest zu versuchen. Die Liste ist ellenlang. Bau-, Planungs- und Umweltdirektoren-Konferenz (BPUK), aus Platzgründen folgen nur noch die Kürzel: EDK, EnDK, FDK, KWL, GDK, KKJPD, KöV, RK MZF, SODK, VDK, FDKL, KOKES, LDK, SSK. Salzregale, Kaminfegermonopole, Berufsnotariate: die Kantone pflegen Relikte und zeigen sich blind für zeitgemässe Lösungen. Konkordate untereinander beweisen längst, dass kantonale Alleingänge überfordert sind.
Das juristische Gerüst dieser Konstrukte bilden 800 interkantonale Verträge, dazu kommen 500 Konferenzen auf Beamtenebene. Ob dies zeitgemäss, effizient ist? Jedenfalls undemokratisch, denn da haben die Bürger nur noch ab und zu indirekt etwas dazu zu sagen.
Kantönligeist ist unzeitgemäss
Die Baselbieter sagen Nein zur Fusion mit Baselstadt – die tiefroten Zahlen bleiben. Einige Kantone lehren die Kinder die neue Basisschrift – die Schürlischrift hat ausgedient, aber nicht in allen Kantonen. Die dringend notwendige Axpo-Reorganisation scheitert am Kantönligeist. Das Zürcher Kantonsparlament will dem Konkordat über private Sicherheitsdienstleistungen nicht beitreten. Als Folge der Unternehmenssteuerreform III fürchten und kämpfen Kantone verbissen um Privilegien, die anderen Kantonen schaden. Im Kleinkanton Uri häuften sich 2015 die Fälle von behördlichem Versagen. Der Bund steuert begrenzt die Kantonsautonomie im Gesundheitswesen immer mehr; diese können sich seit Jahren z.B. nicht über ein vernünftiges gesamtschweizerisches Spitalkonzept einigen.
Nach 28 Jahren in der Politik meinte die Zürcher Bildungsdirektorin Regine Aeppli Ende 2014 lakonisch: „Unsere föderalistische Ordnung blockiert uns heute“ – sie wünscht der Schweiz Weitsinn und Gemeinsinn und deutlich weniger Kantönligeist.
Diese kleine Zusammenstellung kommunaler und kantonaler Stolpersteine hat ihren Zweck erfüllt, wenn Leserinnen und Leser sich Gedanken zur Zukunft der Schweiz machen. Gedanken, die ihnen bisher vielleicht fremd waren. Gedanken über Reformen, die Gemeinden, Kantone und schliesslich das Land stärken würden. Davon profitieren würden wir – Bürgerinnen und Bürger dieses Landes.