Schon früher wurde in dieser Kolumne darauf hingewiesen, wie unvorsehbare Ereignisse* unsere Pläne ins Wanken bringen können. Besonders krass sind dann die Auswirkungen, wenn führende Kreise aus Politik und Wirtschaft auf dem falschen Fuss erwischt werden. Das konnte niemand voraussehen, heisst es dann entschuldigend – was auch ab und zu stimmen mag. Ganz anders sind jene Situationen zu beurteilen, wo diese Verantwortungsträger längst angekündigte „Zeitbomben“ nicht wahrhaben wollen, sie verdrängen, die Augen davor verschliessen.
Eines der gravierendsten solcher Phänomene ist der Alterungsprozess der Gesellschaften und in der Folge der daraus entstehende Finanzierungsengpass der staatlichen Renten, hierzulande AHV genannt, und der Gesundheitskosten. Die Staaten werden überfordert sein in einem Ausmass, das die aktuelle Staatsverschuldung in Folge der Finanzkrise harmlos erscheinen lässt. Obwohl warnende Studien seit Jahren vorliegen, reagieren die Spitzen der Politik nicht – unpopuläre Massnahmen zu beschliessen ist eben verpönt.
Seit 2002 verfolgt Standard & Poor’s diese Entwicklung akribisch in seinem Global Aging Report, 32 traditionelle Industriestaaten und neuerdings auch 17 so genannte emerging markets – also mehr als 2/3 der Erdbevölkerung – werden erfasst. Die Entwicklung ist alarmierend: Die heute schon exorbitanten Staatsdefizite werden durchschnittlich von 4,5% auf 6% des BIP ansteigen, zusammen mit der steigenden Zinslast sogar auf 8,5% bis 2030. Eine solche Schuldenexplosion wäre weder finanzierbar, noch nachhaltig. Was muss passieren?
Unsere Pensionierungs- und Gesundheitssysteme sind dringend reformbedürftig, je schneller, desto besser. Die demographische Entwicklung – der Anteil der über 65-jährigen steigt kontinuierlich und diese werden immer älter - und der daraus drohende Staatsbankrott gehören nicht in die Kategorie der unwahrscheinlichen Ereignisse. Reformen im Sozialsystem brauchen aber Jahre Vorlaufzeit, bis sie sich auf den Staatshaushalt auswirken. Eine der nahe liegenden Massnahmen, die Erhöhung des Renteneintrittalters, ist unausweichlich. Doch die Widerstände aus der Bevölkerung (siehe Griechenland, Frankreich) sind vorprogrammiert. Da kommt die Schweiz, mit einer gedachten Anhebung der magischen 65er-Schwelle auf 67 Jahre noch vergleichsweise gut weg. Ja, wir gelten gar als Musterschüler innerhalb der erhobenen Länder. Doch auch hierzulande gehen wir schwierigeren Zeiten entgegen.
Regierungen (und private Pensionskassen) haben Versprechungen gemacht, die dazu führen, dass mehr ausbezahlt als angespart wird. Der Kreditreport, der am diesjährigen WEF in Davos diskutiert wurde, ist alarmierend. Das Damoklesschwert des demografischen Wandels hängt über allen Rentensystemen. In der EU stellen wir aber paradoxerweise fest, dass heute nicht einmal die Hälfte der Menschen mit 50 noch erwerbstätig ist, obwohl viele von ihnen wegen längerer Ausbildungszeiten bereits später ins Berufsleben eingestiegen sind. Zurzeit kommen bei einem faktischen Renteneintrittsalter von 60 Jahren auf zwei Rentner fünf Erwerbstätige. In 50 Jahren wäre es dann gerade mal noch ein Erwerbstätiger auf einen Rentenbezüger. Natürlich können wir argumentieren, die EU-Zahlen beträfen uns nicht. Doch auch bei uns ist die Problematik ähnlich: Zukünftig werden die Menschen länger arbeiten müssen. Das feste Rentenalter ist passé.
Studien des BSV kommen zum Schluss, dass bis ins Jahr 2025 allein bei der AHV (ohne Ergänzungsleistungen) ein zusätzlicher Finanzbedarf von 13'600 CHF Mio. bestehen wird, was - zur besseren Relativierung - einer vierprozentigen MwSt-Erhöhung entsprechen würde (Worst-case-Szenario 6,4%). Da aber die Kosten der AHV nur ca. 45% der Gesamtauslagen des Bundes für die Soziale Sicherheit ausmachen und auch der Rest (Krankheit/IV etc.) ein zumindest vergleichbares Zukunfts-Szenario denkbar erscheinen lässt, wären wir dann schon bei Kosten in der Höhe von 9, bzw. 14,2% zusätzlicher der MwSt-%. Solche Schätzungen sind – wir wissen es – risikoreich. Doch eines lässt sich voraussagen: Das Umlageverfahren der AHV (die Arbeitenden bezahlen für die Rentner jährlich soviel wie diese beziehen) wird zur Diskussion gestellt. Solidarität zwischen den Generationen hat ein Verfalldatum, wird die Berechnungsbasis nicht den veränderten Lebensbedingungen gerecht.
War die AHV 1948 eine Pioniertat - von der wir Älteren, auch unsere Eltern und Grosseltern profitierten (sie bezogen oft ein Vielfaches des Einbezahlten) - bei deren Gründung 6,5 Arbeitende für einen Rentner aufzukommen hatte, ist das System mit heute mit 3,5 Arbeitenden (Prognose 2020: 2,9) pro Rentenbezüger bald einmal ausgereizt. Abwarten und Tee trinken, zulasten der jungen Generationen, ist keine politische Meisterleistung. Führen heisst auch vorausschauen.
Junge Berufstätige tun wohl gut daran, ihren Ruhestand rechtzeitig zu organisieren. In einem selten ehrlichen Interview – nicht für die Medien bestimmt - äusserte sich ein deutscher Spitzenpolitiker: «Der Staat kann in 20 Jahren den Unterhalt der Alten nicht mehr in dem versprochenen Umfang stemmen. Aber was meinen Sie, was hier los wäre, wenn ein Politiker das öffentlich sagen würde?»
*mehr dazu auch ab April 2011
Christoph Zollinger:
Update nach 2500 Jahren – EPOCHALER NEUBEGINN
Europäischer Hochschulverlag Bremen
(Populäres Sachbuch, Neuerscheinung Frühling 2011)