Lesen Sie bitte zuerst «durchschaut!» #46.
Das schweizerische föderalistische Staatssystem ist nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Es mag zwar besser sein als andere.
Der Ständerat. Ursprünglich eingeführt, um den konservativen, katholischen Minderheiten gegenüber der liberalen, reformierten Mehrheit ein „Zückerchen“ zu geben, ist in der Schweiz die konfessionelle Mehrheit heute katholisch. Gleichzeitig hat das ungleiche Bevölkerungswachstum (städtische Zentren sind viel schneller gewachsen) völlig andere Stimmenverhältnisse bewirkt. Beides führt zur absurden Situation, dass diese kleinen Kantone, die mehrheitlich konservative Grundhaltungen repräsentieren, im politischen Entscheidungsprozess klar übervertreten sind. Der „Kantönligeist“ blockiert überfällige Reformen.
Die Gemeindeautonomie. Auch bekannt unter der Bezeichnung „Kirchturmpolitik“ sind heute viele Aspekte der Gemeindeautonomie überholt. Rund 2800 kommunale Behörden und Verwaltungen sind im Zeitalter der Globalisierung und des Internets ein Anachronismus. Die daraus resultierenden 2800 verschiedenen Bauordnungen, Schulwesen, Polizeiverordnungen, Sozialbehörden usw. – deren Auswirkungen werden zunehmend kontrovers beurteilt und treiben weite Kreise der mobilen Bevölkerung zur Verzweiflung. Von den Kosten nicht zu reden.
Die Steuerpolitik. Sowohl die Kantone, als auch einzelne Gemeinden, betreiben seit rund 20 Jahren einen aggressiven Steuersenkungswettbewerb, um „Besserverdienende“ aus dem In- und Ausland anzuziehen (siehe dazu auch durchschaut! Nr. 32). Galten diese Bestrebungen anfänglich als modern und durchaus lohnend, ist inzwischen Ernüchterung auf breiter Front eingetreten. Die Auswirkungen des desaströsen Standortvorteilskampfes: Land- und Häuserpreise steigen dort, wo mit den tiefsten Steuerbelastungen geworben wird, rasant und unaufhörlich, die Mieten ebenfalls. Die seit langem ansässige Bevölkerung hat das Nachsehen. Der einstige Vorteil für wenige wandelt sich zum Nachteil für viele.
Die kommunalen Bauordnungen. 2800 unterschiedliche Bauordnungen zählt unser kleines Land (Die Metropolregion London zählt etwas mehr Einwohner als die Schweiz und kennt nur eine). Konfusion und Rechtsunsicherheit sind gross. Langfristig das schlimmste Übel ist der kurzsichtige Drang kommunaler Exekutiven, möglichst viel Landschaft als Bauland einzuzonen. Damit soll „Wachstum“ gefördert werden, was leider noch immer als besondere Auszeichnung für vorausschauende Behörden interpretiert wird.
Jetzt realisieren viele Menschen im Land, dass unsere kleinräumigen Strukturen in einer globalisierten Welt und beschleunigten Zeit oft völlig falsche Anreize setzen. Aus den Reaktionen in den Medien zeichnet sich das Unbehagen ab. „Die Macht der Kleinen“ kritisiert die NZZ das umstrittene Ständemehr (NZZ, 29.9.2009) oder „National- und Ständerat driften auseinander“ (NZZ 17.10.2009). „Ende des Flickenteppichs – Glarner krempeln alles um: Seit dieser Woche steht die radikalste Gemeindereform der Schweiz“ (az, 7.1.2011), und „Einsicht, Not und ein bisschen Geld“, beschreibt die NZZ, was immer mehr Gemeinden zu Fusionen motiviert (NZZ, 22.11.2010). „Gemeinden müssten Teil der Macht abgeben“, titelt der TA (13.7.2011) einen Beitrag über die zersiedelte Schweiz. „Die Baulandreserven sind falsch verteilt“, meint aveniraktuell (2011/1). „Tiefe Steuern vertreiben die Alteingesessenen im Kanton Schwyz“ (TA, 22.7.2010).
Diese kleine Medienauswahl1 zeigt, dass sich Unbehagen breit macht. Wir können die Probleme nicht mit den althergebrachten Mitteln und Ansichten lösen. Wollen wir unser föderalistisches System bewahren, müssen wir es dringend der Zeit anpassen. Natürlich wehren sich jene Kreise, die Macht abgeben sollten: Die kleinen Kantone im Ständerat, die lokalen „Könige“ in den Gemeinden, die Steueroptimierer in Kantonen und Gemeinden und letztlich die kommunalen Baulobbys, die verständlicherweise den Bauboom als moderne Errungenschaft betrachten.
Diesen vier willkürlich herausgegriffenen Aspekten des schweizerischen Staatswesens stehen natürlich viele weitere zur Seite, deren Verstaubtheit die inhärenten Standschäden überdecken. Nochmals, nichts spricht gegen das Prinzip dieser Institutionen. Einzelne Regeln jedoch sind neu zu formulieren: Die Stimmenverhältnisse des Ständerats, die Abschottung der kommunalen Zuständigkeiten, der überbordende Steuersenkungswahn, die geradezu hinterwäldlerisch anmutenden kommunalen Zuständigkeiten für den Hochbau.
Der Untergang der alten Eidgenossenschaft vor 200 Jahren war selbstverschuldet und eine Folge ihrer Reformunfähigkeit. „Kantönligeist“ und „Kirchturmpolitik“ haben heute einen negativen Beigeschmack. Deren Folgen sind falsche Zielsetzungen. Obwohl die Computerwelt Wirtschaft und Gesellschaft innerhalb von 30 Jahren fundamental verändert hat, verrosten viele unserer politischen Strukturen davon völlig unberührt.
Wir wollen nicht auf den nächsten „Napoleon“ warten. Rückwärts blickend in die Zukunft zu stolpern ist fahrlässig, überholte Privilegien zu verteidigen unrealistisch. Viele der früheren Vorteile unseres föderalistischen Systems haben sich im Zug der Zeit in gefährliche Nachteile gewandelt, deren Folgen wir immer stärker spüren.
1 In meinem Archiv liegen zu dieser Thematik rund 150 Beiträge der letzten drei Jahre.