Wer meine Bücher gelesen hat, weiss von meiner Faszination für Sokrates, resp. von den ihm - in mündlich überlieferten Fragmenten – zugeschriebenen Weisheiten. »Ich weiss, dass ich nichts weiss«, sein rätselhaftes Eingeständnis an die Mitbürger, hat 2500 Jahre überlebt. Heute, im Zeitalter der vorschnellen Antworten, ist Sokrates’ Fragetechnik aktuell und entlarvend wie eh und je. Damit pflegte er seine Gesprächspartner zur Verzweiflung (und zum Eingeständnis ihres Nichtwissens) zu treiben. Er relativierte ihre Antworten sogleich mit einer neuen, bohrenden Frage, solange, bis die Antworten ausblieben.
Heute, im Zeitalter der atomaren und klimarelevanten Bedrohungen, müssen wir eingestehen: Wir wissen nicht, was wir nicht wissen. Wir leben in Zeiten der Weltrisikogesellschaft, ein Begriff, den Ulrich Beck schon 1986 prägte1. Mussten sich Generationen vor uns gegen akute, lokale Katastrophen oder Bedrohungen wehren (z.B. Hungersnöte, Kriegswirren, Weltkriege), so sind es heute die globalen Risiken (atomare Verseuchung, Klimaerwärmung), die nachdenkliche Menschen beschäftigen.Diese neuen, unvorhersehbaren Risiken wirken sich global, oder zumindest die Grenzen des Nationalstaates überschreitend, aus. Sie sind zudem zeitlich unfassbar, die Langzeitfolgen sind schlicht unkalkulierbar. Raum und Zeit, die bereits durch die Begriffe Globalisierung und Internet die neue Epoche definieren, werden ergänzt durch diese weiteren Komponenten.
Natürlich gibt es jene lautstarken Kreise, die solche Szenarien (aus persönlichen Eigeninteressen) als Resultat von Hysterie oder gezielt geschürter Angst bezeichnen. Ihnen ist zu sagen: «Wenn Katastrophen antizipiert werden, deren Zerstörungspotenzial jedermann bedroht, dann bricht eine Risikokalkulation, die sich auf Erfahrung und Rationalität stützt, in sich zusammen» (Ulrich Beck). Deshalb ist auch den gebetsmühleartigen Beteuerungen der Atomkraftbefürworter und Klimaleugner nicht zu folgen. Unfreiwilliger Humor in den Gazetten: Der WELTWOCHE-Slogan: «Anders, als Sie denken.» Zum Glück denken wir anders. Die bekannteste und ignoranteste Antwort, die wir seit Fukushima kennen: «So ein Ereignis konnte nicht vorausgesehen werden.» «Bitte keine Lügen mehr!» lautet der Ratschlag Helmut Schmidts in der ZEIT.
Was sind die Folgerungen dieser neuen Bedrohungen? Galten früher Eroberungsfeldzüge oder Verteidigungskriege als Reaktionsmuster, kurz der Kampf ums Überleben, so realisieren viele Menschen heute, dass der Kampf (Krieg) als „Lösung“ ausgedient hat. Den neuen Gefahren ist nicht reaktiv, sondern präventiv zu begegnen: durch grenzüberschreitende Kooperationen. Kooperation statt Kampf – eine Losung fürs 21. Jahrhundert?
Neueste neurowissenschaftliche Erkenntnisse bestätigen, dass das menschliche Handeln in erster Linie durch das Streben nach Zuwendung und Wertschätzung motiviert ist. Denn das Gehirn belohnt gelungenes Miteinander mit der Ausschüttung von Botenstoffen, die gute Gefühle und stabile Gesundheit unterstützen. Wenn also die moderne Neurobiologie die Konturen eines Menschen hervortreten lässt, der von Natur aus auf Kooperation konstruiert zu sein scheint, sollte dies nicht ohne Konsequenzen bleiben für die Art, wie wir Menschen unser Zusammenleben gestalten. Und da vernünftige Menschen nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in Politik und Wirtschaft anzutreffen sind, wäre die auf gelingende statt konfrontative Beziehungen angelegte Form des täglichen Umgangs wohl dem Darwin’schen Menschenbild vorzuziehen. 2
Unsere Welt des permanenten Kampfes, Konkurrenzkampf hier, Wahlkampf dort, gibt es dazu Alternativen? Medizinprofessor Joachim Bauer (Universität Freiburg) jedenfalls stützt seine oben erwähnte überraschende These auf Forschungen an Genen des Immunsystems und später im Bereich der Neurobiologie. «Gene sind nicht egoistisch, sondern funktionieren als biologische Kooperatoren und Kommunikatoren.»3
Wie will Bauer das wissen? höre ich jetzt kritische Stimmen fragen. Besser, wir wissen etwas Neues, Positives, als wir verharren in alten, überholten Denkschemen. Vielleicht würde ein Sokrates-Schüler des 21. Jahrhunderts Sie jetzt fragen: Warum ist der tägliche „Kampf ums Überleben“ für viele Menschen überhaupt überlebensnotwendig? Ist diese Lebensform etwa gar das Resultat einer falsch interpretierten Legende, derjenigen des „Kriegs der Natur“ (Charles Darwin, Mitte des 19. Jahrhunderts)? Oder: Sind Menschen tatsächlich nur eine besondere Spezies Tiere? Oder: Wenn das menschliche Hirn zu Leistungen fähig ist, die für Tiere undenkbar sind, warum handeln wir nicht entsprechend? Oder: Was ist der Unterschied zwischen glauben und verstehen? Ihren persönlichen Fragen sind – seit Sokrates – keine endgültigen Antworten anzubieten.
1 Ulrich Beck: „Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne“, 1986, Suhrkamp.2 Christoph Zollinger: „Update nach 2500 Jahren – EPOCHALER NEUBEGINN“, 2011, Europäischer Hochschulverlag Bremen. Populäres Sachbuch.
3 Joachim Bauer: „Prinzip Menschlichkeit“, 2008, Heyne Taschenbuch.