Wissen Sie, welche Partei in den Exekutiven der Schweizer Gemeinden die Nase vorne – am meisten Mandate inne – hat? Diese Frage wird meistens mit der Antwort "wohl die SVP – oder etwa doch die SP?" beantwortet.
Tatsächlich ist die mit Abstand stärkste Kraft gar keine politische Partei; sondern sind es die "Parteilosen." Im Kanton Zürich sind 38% der 1078 Mandate (Gemeindewahlen 2006), auf gesamtschweizerischer Ebene gar 42% aller 15'500 kommunalen Exekutivmitglieder (NZZ, 17.8.2009) Parteilose. DIE ZEIT (20. Mai 2009) folgert daraus: "Die neue Macht im Land."
Parteilos – also ohne politische Partei im Rücken – zu politisieren ist im In- und Ausland seit über 20 Jahren ein Trend, der sich akzeleriert. Welches sind die Gründe dafür? Aus meiner persönlichen Sicht liegt die Hauptmotivation darin, dass politisch interessierte und engagierte Damen und Herren sich nicht von einer Parteizentrale aus steuern lassen wollen. Sie entscheiden autonom. Vielleicht ist diese Einstellung vergleichbar mit der Religionszugehörigkeit: Auch ohne sich für reformiert oder katholisch zu entscheiden oder von der Kanzel herab Verhaltensratschläge zu empfangen, kann der moderne Mensch religiös sein.
Ein zweiter wichtiger Grund liefert die hohe Politik (Kanton, Bund): Der Dauerknatsch zwischen ganz links (Grüne, SP) und ganz rechts (SVP, EDU), die veraltete Einsicht, dass entweder der eine oder der andere "recht hat", führt dazu, dass sich viele Menschen frustriert abwenden von diesem Politikverständnis. Ein dritter Grund mag darin liegen, dass persönliche Überzeugung und Parteiraison zu oft auseinander klaffen. Der Fraktionszwang – die bedingungslose Ausrichtung auf die Parteidoktrin – ist nicht mehr zeitgemäss, sozusagen ein Rückzugsgefecht bröckelnder Parteidisziplin und – stärke. Und schliesslich ein vierter Grund: Parteilose kennen keine Vereinsstrukturen, Mitgliederbeiträge, Parteiversammlung, Präsidenten, Abstimmungs- und Wahlempfehlungen. Trotzdem politisieren sie nicht im leeren Raum und schon gar nicht beliebig. Die Vernetzung untereinander geschieht via Internet. Die Beteiligung auf dieser modernen Plattform ist schnell und unbürokratisch, hierarchielos.
Wer sich gerne aktiv in den politischen Gremien engagieren möchte, meldet sich bei der "Kontaktstelle." Diese ist nicht gewählt, aber im Idealfall politisch erfahren. Ein wichtiges Selektionskriterium steht allerdings im Zentrum: Extrempolitiker (links oder rechts) und Populisten sind nicht willkommen. Während sich viele politischen Parteien über Mitgliederschwund und Parteiverdrossenheit beklagen und oft Mühe bekunden, geeignete Personen für die kommunalen Ämter zu rekrutieren, können die Parteilosen aus einem breiten Spektrum hervorragend qualifizierter Menschen auswählen.
Der Trend zu den Parteilosen ist weltweit zu beobachten. In seinem politischen Essay "Postdemokratie" hat der Politikwissenschafter Colin Crouch diesen Begriff geprägt für unsere Zeit der Systemdiskussionen über mehr oder weniger Staat. Er hat dabei ein politisches System im Auge, deren demokratischen Institutionen zwar existieren, das von Bürgerinnen und Bürgern aber nicht länger mit Leben gefüllt wird. Crouch diagnostiziert, dass "… wir dem Gezerre zwischen den Parteien den Rücken kehren und unsere Energie auf jene Organisationen konzentrieren, bei denen wir davon ausgehen können, dass sie sich dauerhaft für jene Themen einsetzen werden, die uns am Herzen liegen. Wer sich dagegen an das alte Modell der monolithischen Partei klammert, der droht in der nostalgischen Sehnsucht nach einer Vergangenheit unterzugehen, die unwiederbringlich verloren ist."
Auch wenn es den Parteilosen im Moment mangels entsprechender Strukturen noch schwer fällt, den Sprung in die kantonalen oder nationalen Ämter zu schaffen, ist mit ihnen mittelfristig zu rechnen. Internet-Plattformen sind in den USA schon heute hauptverantwortlich für die Meinungsbildung in der Politik. Die neue Politdimension, zur Ergänzung der politischen Parteien, wird deshalb das Online-Parteilosen-Forum sein.
Die Schweiz mit ihren basisdemokratischen Einrichtungen kann - im Gegensatz zu vielen anderen Demokratien dieser Welt - den Trend zur Parteilosigkeit, zum direkten, spontanen Engagement in den kommunalen Institutionen, an vorderster Front mitbestimmen. Sie tut es bereits sehr erfolgreich.