Sie sprechen zwar die gleiche Sprache, doch sie können sich nicht verstehen. Damit tritt im 21. Jahrhundert eine neue Form babylonischer Sprachverwirrung auf: Das politische Establishment (in vielen Ländern auch genannt „Elite“) kann und will nicht verstehen, was Millionen ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger wirklich umtreibt.
Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten
Noch vor zwei Generationen sprach man mit Bewunderung vom „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ und meinte damit die USA. Inzwischen sind 50 Jahre vergangen und aus weiten Teilen zwischen dem Osten und dem Westen des Landes sind Landstriche mit eher begrenzten Möglichkeiten entstanden. Es haben sich unübersehbare Gräben zwischen den Küstenstrichen und dem Landesinnern geöffnet. Mentalitäten und Lebensformen sind auseinandergedriftet. Die Bewohnerinnen und Bewohner dieses durch Gräben getrennten Staates sprechen zwar alle amerikanisch (mit verschiedenen Akzenten), doch sie können sich nicht mehr verstehen. Eine beunruhigende Entwicklung, wie die Twitter-Botschaften zwischen dem Weissen Haus und der weissen Arbeiterschicht offenbaren.
Tatsächlich stösst Trumps Rhetorik bei Millionen von „Globalisierungs-Verlierern“ auf offene Ohren – beim globalisierten Establishment auf Entsetzen. Das nationalistische Volk saugt die trump‘sche Droge auf wie der Schwamm Wasser – endlich sieht es seinen Hass, seine Wut und Rachegelüste wahrgenommen und krachend durch einen narzisstischen Helden umgesetzt.
Das Problem dabei ist die Blindheit und Schwerhörigkeit „Washingtons“ – der etablierten, eingespielten und solide durch ein Heer von politischen Lobbyisten vernetzten Volksrepräsentanten, den republikanischen und demokratischen Parteigrössen. Bis heute, so scheint es wenigstens, haben diese die Konsequenzen aus Trumps Überraschungswahl nicht gezogen: die Abgehobenheit einer Kaste ist Gift für ein Land. Das Ziel der politischen Geschäftigkeit im „District of Columbia“ ist für die Arbeitslosen in den ehemaligen, inzwischen ausgelagerten Produktionsstätten tausende von Meilen entfernt ein falsches, die Arbeit des Kongresses ein Verrat an ihnen. Wer hat Recht?
Europa im Sog der Nationalisten
Nochmals: Wer hat Recht? Die Mehrheit des Stimmvolkes, wie immer in Demokratien. Doch wer jetzt mit dem Finger auf die USA zeigt, sollte aufpassen. Ein ganz ähnliches Auseinanderdriften zwischen „Oben“ und „Unten“ manifestiert sich auch diesseits des Ozeans. In Europa stösst das „Eliteprojekt“ EU in weiten Bevölkerungskreisen auf immer grössere Skepsis. Auch hier scheint zwischen den Frauen und Männern draussen auf dem Land und jenen im Brüsseler Glaspalast trotz dessen transparenten Verglasung die Sicht getrübt und auch die Hörqualität stark eingeschränkt. Das Unvermögen der einen Seite, Verständnis für die andere aufzubringen, scheint im politischen System begründet. Während die arbeitende Bevölkerung dem harten Wind des globalisierten Kapitalismus ausgesetzt, zum Teil seit Jahren arbeitslos und nachvollziehbar frustriert ist, produziert Brüssel laufend neue Regelwerke, die selbst immer öfter durch gewisse Mitgliedländer ignoriert werden.
Das ist die Hochsaison für Populisten. Bei jeder Volksabstimmung in der EU erzielen die populistisch/nationalistischen Rechtsaussenparteien mehr Stimmen, mittlerweile sind sie in den nationalen Regierungen angekommen und bestimmen diese teilweise. Diese Gefahr ist echt, ob sie unterschätzt oder ignoriert wird – der Schaden wird grösser und grösser. Wie sagte einst Steven Pinker: „Nationalismus kann gefährlich werden, wenn er in Verbindung mit der in Gruppen vorkommenden Entsprechung zum Narzissmus im psychiatrischen Sinn auftritt: mit einem grossen, aber zerbrechlichen Ego, das sich seinen Anspruch auf Vorherrschaft nicht verdient hat. Wie gesagt: Narzissmus kann Gewalt auslösen, wenn ein vorlautes Signal aus der Realität den Narzissten in Wut versetzt.“
Schon seit Jahren fordern viele Menschen in Europa, dass die EU endlich reagieren würde: auf die zersetzenden Anzeichen innerhalb ihres Clubs, auf die abstossende Vorbildwirkung der selbsternannten nationalistischen Staatschefs im Osten, auf die immer grösser werdende Unzufriedenheit ob der Untätigkeit in Brüssel, auf den nicht existierenden zukünftigen Kurs der Europäischen Union. Seit sich die USA schon mit Obama von der einstigen Rolle des Weltpolizisten verabschiedet haben und erst recht jetzt mit einem Narzissten als Chef des Weissen Hauses haben sich auch die transatlantischen Beziehungen grundlegend geändert. Zusammen mit den EU-internen Herausforderungen drängen sich aussen- und innenpolitisch gebieterisch neue, zukunftskompatiblere Ziele auf. Gefordert sind die ganz oben in der Machtpyramide, de facto also die nationalen Regierungschefs.
Vom „Global Village“ zu „Global Villages“?
Noch immer scheint der EU-Spitze ein vereinigtes Europa (Vereinigte Staaten von Europa) als Mittel- und Langfristziel vorzuschweben; zumindest lassen auch neueste Verlautbarungen aus Brüssel nichts Gegenteiliges feststellen. Schweizer, die wir nicht mit von der EU-Partie sind, sollten sich wohl der Stimme enthalten. Doch sind es viele Menschen aus den EU-Ländern selbst, die sich immer kritischer äussern. „Ein staatenübergreifendes Europa, die Welt als globales Dorf? Das war einmal“, äussert sich in der NZZ Herbert Münkler, Professor für Theorie der Politik am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin.
Münkler diagnostiziert einen Zusammenhang zwischen immer grösseren Räumen und einer forcierten Individualisierung, resultierend aus dem Verlust der Geborgenheit. Darauf reagieren viele Menschen mit Rückzug, einer wachsenden Angewiesenheit auf sich selbst (den Boden unter den Füssen verlieren) oder einer schleichenden Entsolidarisierung. Manche nennen das auch grassierender Egoismus. Seine Diagnose des offensichtlichen Kontrollverlusts innerhalb der EU-Spitzen bringt er in Zusammenhang mit diesem „Eliteprojekt“, das nicht darauf vorbereitet scheint, dass in den Nationen plötzlich das Wort „Heimat“ wieder Hochkonjunktur hat. Darunter wird in Zeiten der Völkerwanderung aus Afrika nach Europa ein Versprechen von Schutz und Sicherheit verstanden. „Vorerst befinden wir uns auf dem Weg in eine neue Kleinräumigkeit und deren absehbare Folgen werden uns noch viel Ungemach bereiten“, warnt Münkler.
Die Schlafwandler
Der australische Historiker Christopher Clark beschrieb in seinem Buch „Die Schlafwandler – wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ jene eigenartige Stimmung. Man realisierte den Unbill, man verdrängte die Gefahr, man ignorierte das Wetterleuchten des aufziehenden politischen Gewitters. Und heute: Wenn der Populismus in immer höheren Wellen auf die Länder trifft und dort Begeisterung auslöst – die Ursprünge sind stets dieselben: Unwohlsein einer Mittelschicht, die das politische System als ungerecht empfindet und die Geduld verloren hat mit den regierenden Parteien, die mit Ignoranz auf ihre Ängste reagieren.
Die Geschichte ändert sich nicht, sie bleibt sich gleich.