Was wir dachten
Die Schweiz, Hort der Freiheit – Wilhelm Tell als Monument. Das Volk, Bewahrende der ältesten Demokratie – das Schweizerkreuz als Gütesiegel. Die helvetischen Institutionen – das «Swiss Army Knife» als Exportschlager.
Aus dem Schlafwagen rückwärts blickend – glückliches Land. Aus dem Hochsitz des Geländewagens von oben herab beurteilt – Platz da, keine Zeit für Nebensächliches, ich bin ich. Vom Schreibtisch aus auf die unbekannte Zukunft gerichtet – was braut sich da zusammen?
Aus Anlass des Präsidentenwechsels in den USA stellte sich die Frage: Stand die Zukunft der US-Demokratie auf dem Spiel – wird jetzt alles besser? Nachdem ein pathologischer Narziss jenes Land der Verheissung während vier Jahren lächerlich machte und die demokratischen Regeln korbweise aus dem Weissen Haus kippte – werden mit Biden/Harris Vernunft und Verantwortung ins Oval Office zurückkehren?
Sind wir in Washington D.C. haarscharf an einem Staatscoup vorbeigeschrammt – in der Demokratie, die der Schweiz 1848 als Vorbild diente bei der damals neuen, modernen Verfassung («Die Verfassung der Vereinigten Staaten Nordamerikas als Musterbild der Schweizerischen Bundesreform»)? Darauf waren wir doch zu Recht stolz. Bei uns Schweizer*innen wäre eine solche vierjährige Farce undenkbar, dachten wir.
Was tatsächlich ist
Tagelang hüllte dichter, kalter Nebel im November 2020 die Niederungen unseres Landes in ein undurchsichtiges fahles Weiss – gleichzeitig erlebten wir in den Bergen traumhaftes, sonniges Herbstwetter mit stahlblauem Himmel. Fazit: Während da Klarsicht herrscht, beklagt man dort gleichzeitig mangelnde Durchsicht. Für Teile der Bevölkerung ist die Welt ganz in Ordnung, andere leiden. Die Debatte um die Krise der Demokratien – Stichworte Trump, Orban, Erdogan – lässt viele kalt, doch nicht wenige befürchten ein Ausbreiten der antidemokratischen Tendenzen, eine Gefährdung unserer Freiheit. Was ist gemeint?
Leise verschwindet die Bedeutung des Begriffs «Freiheit» aus unserem Alltag. Freiheit ist kein Zustand, sondern ständiges Werden. Freiheitsideale sind persönliche Vorstellungen. Daraus leiten sich unterschiedliche Idealzustände ab. Dass eine grosse Volkspartei die für unser Land gültige Formel der Freiheit meint definieren zu müssen, ist simple Selbstüberschätzung.
Dagegen ist es umso wichtiger, dass wir alle über unsere Freiheit nachdenken: Woher kommt sie, wie halten wir sie hoch, was gefährdet sie? Keine Schweizerin, kein Schweizer sollte sich dieser Aufgabe entziehen.
Selbstkritisch fragen wir uns, weshalb Antiliberalismus und Intoleranz zunehmen. Wenn in der ältesten Tageszeitung (seit 1780) der Schweiz beklagt wird, staatlicher Interventionismus verdränge jene freiheitlichen Prinzipien, die das Land einst gross gemacht hätten, dann müsste man auch fragen, warum. Klimawandel und Covid-19-Pandemie eignen sich vorzüglich, um die Antwort sichtbar zu machen.
Weder hat die Schweiz bis heute beide Themen unter dem Titel «Freiheit in der Form von Abwesenheit jeglichen Zwangs» oder unter dem Stichwort «Eigenverantwortung mit mutigen Lösungen» zuoberst auf die Traktandenliste gesetzt, noch hat sich die Gesellschaft freiwillig zu den angebrachten Verhaltensänderungen durchgerungen. Wer saniert schon unaufgefordert seine alte Ölheizung? Und wer verzichtet freiwillig auf Barbesuche, «Sünnele» an den überfüllten Stränden, Jassen oder private Festivitäten? Eben: Weil das private freiheitliche Prinzip durch andere, modischere ersetzt wurde, mischt sich der Staat ein. Nicht umgekehrt.
Wer raubt uns denn gegenwärtig die Freiheit?
Beklagen wir uns darüber, die böse Covid-19-Krise raube uns täglich mehr Freiheiten? Denn wir wollen ja nicht verzichten. Oder sind der Bundesrat und das BAG mutwillig daran, uns Stück um Stück unserer Freiheiten «downzulocken»? Denn sie diktieren, wo wir doch selbstverantwortlich und autonom entscheiden wollen.
Abgesehen davon, dass in vielen Ländern der Welt mit Recht und Verzweiflung daran erinnert wird, dass ihnen als Volk sämtliche grossen, demokratischen Freiheiten durch korrupte, eigene Regierungen oder Despoten gestohlen werden, ist der Begriff der eigenen Freiheit dehnbar. Unsere Probleme mit Freiheit sind vergleichsweise klein, sehr klein. Unser «Freiheitsverlüstchen» – sofern es überhaupt als solches empfunden wird – wird zwar eifrig medial belehrend traktandiert. Doch was ist dies im Vergleich zur oben erwähnten Situation?
Dafür scheint die Gleichgültigkeit, mit der viele im Land dem grossen Wert des Begriffs «Freiheit» begegnen, alarmierend. Er ist ja auch nicht Thema der Tages- oder Rundschau auf TV SRF 1.
Die Frage, wer uns denn tatsächlich die Freiheiten raubt, ist maliziös, natürlich. Die Antworten, die in der Tagespresse ungefragt erteilt werden, und die Ratschläge, wie der freiheitlichen Bedrohung im Gefolge der Covid-19-Geschichte zu begegnen sei, sind diskutabel, vorsichtig ausgedrückt.
Der Freiheitsbegriff sei am Verlottern, schrieb die ZEIT. Was war gemeint? Die Ideologie der Maskenverweigerer, die Corona-Schutzmassnahmen unter Diktaturverdacht stellten, um damit zu signalisieren, sie dächten nicht daran, sich einzuschränken, denn dies sei eine autoritäre Zumutung – dieses Beispiel sei Zeichen einer vulgärlibertären Mentalität. «Freiheit bedeutet hier das Recht auf Ignoranz und Rücksichtslosigkeit, moralisch aufgehübscht als Widerstand gegen einen übergriffigen Bevormundungsstaat.»
Der Chefredaktor spricht
Da riet uns der Chefredaktor persönlich im Mai 2020: «Die Regierung muss loslassen, die Gesellschaft muss ihre Freiheit klug gebrauchen.» Im Oktober doppelte er nach: «Die Corona-Regeln werden zunehmend zu einem Irrgarten, in dem sich die Bürger nicht mehr zurechtfinden. Die Regierungen schwanken zwischen der Allmachtsphantasie, alles regeln zu können, und dem Wissen, dass es ohne Selbstverantwortung der Bürger nicht geht. Auch in der Pandemie gilt: Kontrolle ist gut, Freiheit ist besser.»
Im November schliesslich meldete er sich nochmals, der besorgte Chefredaktor: «Hausarrest für alle, Kontaktverbote für Kinder: Vieles, was sich Regierungen jetzt ausdenken, geht gegen die menschliche Natur. In der Corona-Krise ist Nachhaltigkeit genauso wichtig wie Risikovermeidung.»
Da stellt sich die Frage, wo die Freiheit so wichtig scheint, heisst es doch sinngemäss nach Kant, dass der Einzelne so viel Freiheit beanspruchen kann, dass diejenige des anderen nicht tangiert wird. Schon die Ansteckungszahlen lassen erahnen, dass die beschworene Selbstverantwortung ungenügend ist, ja, sie tangiert doch offensichtlich «den andern». Oder outet sich da jemand als Verfechter von John Stuart Mills berühmtem Essay «Über die Freiheit» («On Liberty») aus dem Jahr 1859?
Schliesslich stellt sich die Frage, was unter der oben zitierten «Nachhaltigkeit ist genauso wichtig» gemeint ist. Möglicherweise wurde der Begriff nachhaltig gar nicht im Sinne von «sustainable» gedacht, das könnte ein allfälliges Missverständnis erklären.
Böse Krise als einmalige Chance
Zurück zum Hauptthema. Zum Glück können wir feststellen, dass ein vierjähriger «Lockdown der Vernunft», wie im Weissen Haus zu Washington von 2017 bis 2021 beobachtet, in der Schweiz undenkbar scheint. Allerdings ist der Urbegriff «Freiheit» in Corona-Zeiten kein Gesprächsthema im Schweizerland. Umso mehr werden Klagen über Freiheitsverlust medial verbreitet – als Ersatzhandlung wohl für die Verfechter eines Liberalismus, dessen Stern an Leuchtkraft verloren hat; mit dem Aufkommen des Neoliberalismus ist das jedenfalls klar dokumentiert.
So viel lässt sich sagen, dass das Ausspielen von behördlichem (bundesrätlichem) Machtzuwachs gegen den Verlust föderaler oder menschlicher Freiheiten ein schlecht gewähltes Thema ist. Bisher hat unser Bundesrat mehrheitlich sorgfältig und überlegt gehandelt. Statt diese Entwicklung zu kritisieren, sollten wir alle am gleichen Strick ziehen.
Die Corona-Krise verändert unser Leben. Da und dort macht sich Langeweile bemerkbar. Diese leere Zeit bietet jedoch die einmalige Chance, unser Verhältnis zum Zeitbegriff vom rein quantitativen auf das qualitative Element zu fokussieren: «Ich habe keine Zeit!» gilt nicht mehr als Ausrede. Nehmen wir uns etwas Zeit, fragen wir uns zum Beispiel, welchen Wert der Begriff «Freiheit» für uns persönlich hat.
Fortschritt, Freiheit, Frieden
Beginnen wir beim Begriff «Fortschritt». In den letzten 75 Jahren hat der «Fortschritt» unsere Landschaft – mit Ausnahme der Bergwelt – umgepflügt. Allein die Anzahl Wohngebäude stieg von 600'000 auf 1,5 Mio. Auf dem verbliebenen Land produzieren unsere Bauern ein Vielfaches dessen, was 1945 möglich und denkbar war. Erst in den letzten Jahren begann die Diskussion, welchen Preis wir dafür zu bezahlen haben: Vergiftung des Trinkwassers, giftige Pflanzenschutzmittel, Import von Mastfutter aus dem Ausland zur «Ernährungssicherheit».
Das alles läuft unter dem Begriff «Fortschritt». Fortschritt, weg vom Ursprung, Ausgewogenen, Natürlichen?
Vor lauter Fortschritt ging vergessen, dass eine der Voraussetzungen für diese Entwicklung, der wir Wohlstand und Sicherheit zu verdanken haben, unser Fundament «Freiheit» ist.
Ohne Freiheit kein Fortschritt. Ohne Fortschritt kein Wohlstand. Dieser an sich erfreuliche Zusammenhang übertüncht Folgendes: Wir messen mit Geld und verdrängen den Gestehungspreis – dieser geht zulasten des Nicht- Messbaren, zum Beispiel der Natur, des Klimas, der Nachhaltigkeit.
Zurück zur gestellten Frage, welchen Wert der Begriff «Freiheit» für alle von uns persönlich hat. Wenn wir jetzt zuhause sitzen und darüber nachdenken – was könnte mein ganz persönlicher Beitrag zur Stärkung unseres freiheitlichen Fundamentes sein?
Denn, nicht wahr, diesem intakten Fundament verdanken wir hier im Westen auch eine 75-jährige Friedensperiode. Absolut keine Selbstverständlichkeit.
Freiheit weltweit auf dem Rückzug
Ein Blick über unsere Landesgrenzen hinaus in die globalisierte Welt zeigt, dass die Zahl der demokratisch regierten Länder ständig abnimmt. Zweifellos ist das für die betroffene Bevölkerung ein Freiheitsverlust. Autoritäre Regimes sind im Aufwind, deren Autokraten verachten die Freiheitsrechte ihrer Bevölkerungen. Ihr Ziel: persönliche Macht. Der «Freedom-Index» des Freedom House in Washington D.C. mahnt seit 2018, dass «die Demokratie ihre schwerste Krise seit Jahrzehnten erlebt» (ausgerechnet aus Washington D.C. erreichte uns diese Nachricht …).
Was die Sache nicht besser macht: Auch innerhalb der EU machen sich Krisen breit – egoistischer Brexit, autoritäres Gehabe in Ungarn und Polen als Beispiele. Populisten entzweien da wie dort die betroffenen Länder. (Die Schweiz als Nicht-EU-Mitglied ist da nicht auszunehmen, auch hier spalten Populisten das Land.) Damit werden westliche Werte, auf die wir seit der Renaissance stolz sind, nicht nur von aussen, sondern auch von innen bedroht.
Die westliche Zivilisationsgeschichte ist unter Druck geraten. Fortschritt, Wachstum und Kapitalismus als Wohlstandstreiber werden hinterfragt, nicht nur von linken Agitatoren. Tatsächlich wird langsam offenkundig, dass diese erfolgreiche Story ihre Schattenseiten hat. Das Echo aus dem Kreis der Jugend wiederholt sich nicht mehr wie gewohnt, es kommen neue Töne auf: Klimajugend, Gleichstellungsdruck, Nachhaltigkeitsgebot.
Viele fragen sich jetzt: Wie ist die Freiheit zu verteidigen? Eigentlich geht es gar nicht darum. Verteidigen muss, wer angegriffen wird. Wir selbst können uns doch nicht gleichzeitig verteidigen und angreifen?
Also gilt es, unsere Freiheit zu thematisieren, zu stärken, nicht den «anderen» zu überlassen. Nochmals, welchen Wert hat der Freiheitsbegriff für jeden von uns persönlich?
Jetzt komme ich zurück auf den Anfang dieses Essays. Warum sind die USA so wichtig? Was dort gekocht wird, kommt regelmässig mit einiger Verspätung auf unseren Tisch. Die Liste der grossartigen Erfindungen, aber auch der deprimierenden Trends ist lang. Sie ist Trump-bedingt in den letzten vier Jahren noch länger geworden. Nachahmen ist manchmal spannend, oft aber auch primitiv.
Rückbesinnung auf unsere Freiheiten
Eine Krise wie diese haben die zwei bis drei Generationen der nach 1945 Geborenen noch nie erlebt. Noch vage mögen sich die Alten unter uns an durch behördliche Vorschriften abhanden gekommene Freiheiten während des Zweiten Weltkrieges erinnern.
Doch täglich realisieren wir, dass es in Corona-Zeiten nicht ohne Verzicht auf Freiheitsrechte geht. Natürlich würden wir die grosse Party gerne weiterfeiern, natürlich zieht es uns mit allen Fasern in die Skigebiete mit Sonne, Lachen und «Schümli-Pflümli» aus der Bar. Warum wenden wir uns – statt zu jammern – nicht der Zeit danach zu, warum nutzen wir eine verbleibende Freiheit, unsere Meinungsfreiheit, nicht konstruktiv?
Niemand hält uns in Social-Media-Zeiten davon ab, uns heute schon an die grossartige Rede- und Schreibfreiheit zu erinnern – ein Juwel, das in vielen Ländern dieser Welt von Autokraten gestohlen wurde –, uns gemeinsam auf die Suche nach neuen Lösungen und den Wettbewerb der Ideen zu begeben. Die in den letzten Jahren festgestellte Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts ruft nach Überwindung. Der Spaltung der Gesellschaften weltweit, vorangetrieben durch emsige Populisten, kann begegnet werden, die Gräben können zugeschüttet werden. Dazu haben wir unsere Freiheit.
In diesem Zusammenhang: Wir haben in der Schweiz eine Parteienlandschaft, die sich zu langsam verändert. Zu stark dominieren die gedanklichen Unterschiede in der Beurteilung der politischen Situationen. Parallel dazu, Gräben zuzuschütten, könnten wir am Aufbau solider, zukunftsgerichteter Kooperationen über Parteigrenzen hinweg mitwirken. Kooperation statt Kampf ist zielführender bei der Ausrichtung auf eine Zukunft ohne Covid-19-Einschränkungen.
Perspektivenwechsel: Fokus Zukunft
Niemand hindert uns daran, schon heute mit der Auflistung zukünftiger Chancen zu beginnen. Chancen, die dank Corona ans Tageslicht traten. Wir hatten ja Zeit, uns Gedanken zu machen, die uns ohne den abrupten Stopp-Ruf für weniger wichtige Gewohnheitsfreiheiten wohl nie gekommen wären.
Plötzlich erscheint uns das Mitgestalten der Zukunft, das aktive Mitwirken bei nötigen Veränderungen interessant, spannend, lohnenswert. Unsere Zivilgesellschaft ist genau auf diesen freiwilligen Ruck ihres Souveräns angewiesen.
Das Virus hat auch in unserem Land gnadenlos aufgezeigt, wo die politischen und staatlichen Defizite liegen. Der Reformbedarf ist längst evident. Anpacken statt palavern heisst die Devise nach Corona Rentenreform, Gesundheitsreform, Nachhaltigkeitsgebot (Klima), Landwirtschaftsreform, Landschaftsschutz, CH-EU-Blockade, um nur einige zu nennen.
Überall liegen die Chancen offen – der heilsame Schock der bösen Krise könnte einen gewaltigen positiven Drive auslösen.