Bei der hochspannenden Lektüre der Eidgenössischen Bundesverfassung lesen wir: „Art. 75 Raumplanung: Der Bund legt Grundsätze der Raumplanung fest. Diese obliegt den Kantonen und dient der zweckmässigen und haushälterischen Nutzung des Bodens und der geordneten Besiedlung des Landes.“ Dieses Statement überrascht. Doch es kommt noch besser. „Art. 73 Nachhaltigkeit: Bund und Kantone streben ein auf Dauer ausgewogenes Verhältnis zwischen der Natur und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits und ihrer Beanspruchung durch den Menschen andererseits an.“ Wussten Sie das? Wann haben Sie zuletzt in unserer Bundesverfassung geblättert?
Wenn wir über Land fahren, und Mitfahrende zitieren laut und respektvoll obige Artikel, wähnen wir uns im falschen Film. Was wir sehen, kann nicht die Schweiz sein – zumindest nicht, nach dem Wortlaut unserer Verfassung. Dabei sind wir so stolz auf unsere Demokratie. Was ist passiert?
Die Kantone sind in der föderalistischen Schweiz für die Ausführung obiger Verhaltensregeln zuständig - im Rahmen der übergeordneten Gesetze. So, wie in der Bundesverfassung steht Bund und Kantone, so heisst es in der Verfassung des Kantons Zürich Kanton und Gemeinden. Somit wird das Paket noch eine Stufe weiter hinuntergereicht und, siehe da, plötzlich sind jetzt in der Schweiz auch 3026 Gemeinden in der Verantwortung. Was mit haushälterischer Nutzung des Bodens, mit ausgewogenem Verhältnis zwischen der Natur und ihrer Erneuerungsfähigkeit, sowie ihrer Beanspruchung durch Menschen gemeint ist, interpretieren, neben den Kantonen, grösstenteils die Gemeindevertretungen und ihre Dorfseilschaften. Dafür haben sie u.a. 3026 unterschiedliche Bauordnungen kreiert. Im 21. Jahrhundert entscheiden in unserem Land – wie im vorletzten Jahrhundert – Tausende von Behörden darüber, was unter Raumplanung und Nachhaltigkeit zu verstehen ist. Individuell, föderalistisch.
Was tatsächlich passiert ist, sehen wir aus den Auswertungen, wie die Kantone der Schweiz unsere Bundesverfassung bisher ausgelegt haben – eben föderalistisch. Die Walliser stehen an der Spitze der Statistik der überdimensionierten Bauzonen. Wer in der Verfassung des Kantons Wallis nach den Begriffen Raumplanung und Nachhaltigkeit forscht, sucht vergebens. Diese Begriffe existieren schon gar nicht. Obwohl nach eidgenössischem Recht seit über 30 Jahren Bauzonen nur so viel Land umfassen dürfen, wie voraussichtlich innert 15 Jahren benötigt wird, reichen die eingezonten Baulandreserven im Wallis für mindestens 25 Jahre.
Deshalb stimmen wir am 3. März 2013 über die Revision des Raumplanungsgesetzes ab. Denn nur wenn wir verzichten, können wir bewahren, was uns wichtig ist. Zu grosse Bauzonen sollen verkleinert, dafür bestehende Baulandreserven besser genutzt werden. Der Landverschleiss soll gebremst, die Bodenspekulation bekämpft, der Papiertiger aus dem Bundeshaus ersetzt werden durch ein griffigeres Gesetz. Kanton und Gemeinden werden an die Kandare genommen, da sie zu oft in der Vergangenheit den Gesetzesauftrag nicht befolgt haben. Dies ist tatsächlich ein Eingriff in den Föderalismus – doch er ist längst überfällig.
Bei Annahme der Revision ist eine weitere Korrektur fällig. Seit Jahrzehnten werden überall in der Schweiz Landwirtschaftsflächen in Bauland umgewandelt. Wir kennen sie alle, die grünen Wiesen mit den weidenden Kühen – und den Bauprofilen. Stichworte wie Siedlungsdruck und Zersiedelung sind uns bekannt. Erstaunlich an dieser Metamorphose sind die finanziellen Begleiterscheinungen. Gemäss Landschaftsschützer Raimund Rodewald streichen die betroffenen Landbesitzer – also oft die Bauern – bei diesen Einzonungen jährlich ein bis zwei Milliarden Franken Gewinn ein. Jetzt mögen wir uns daran erinnern, dass dieselben Bauern vorher seit vielen Jahrzehnten vom Subventionsregen aus Bern profitiert haben. Zum Beispiel erhalten sie – neben anderen substanziellen Zahlungen - allein an Direktzahlungen jährlich über 2,5 Milliarden Franken. Zukünftig sollen bei solchen Einzonungsgewinnen 20% des Mehrwertes an Kanton und Gemeinden fliessen. Mit diesem Geld könnte ein Teil der Rückzonungen finanziert werden. Obwohl vier Kantone diese Abgabe schon kennen und obwohl auch eine höhere Abgabe nicht völlig abwegig wäre, laufen Lobbys, Baulöwen und mit ihnen die SVP Sturm gegen diese Neuerung. Es ist ihr gutes Recht. Alle andern haben auch Recht, wenn sie anders denken.
Das Recht auf Bundesebene allerdings (Bundesgesetz über die Raumplanung, Art. 5) ist klar formuliert: „Das kantonale Recht regelt einen angemessenen Ausgleich für erhebliche Vor- und Nachteile, die durch Planungen nach diesem Gesetz entstehen.“ Jetzt wird über allfällige Nachteile gejammert, während die Vorteile während Jahrzehnten stillschweigend akzeptiert wurden.
Dass sich auch der Schweizerische Gewerbeverband gegen die Revision stemmt, wen wundert‘s? Die Baubranche ist da prominent vertreten. Und die Drohung mit „Horrormieten“ bei Annahme der Revision gehört zur Kategorie Angstkampagnen, die politische PR-Agenturen standardmässig inszenieren. Nein zu „mehr Steuern und Abgaben“, auch diese alte Platte hat Sprünge bekommen. Hinter den wohltönenden Ratschlägen verstecken sich Eigeninteressen, die wohlweislich verschwiegen werden. Dafür hat der Volksmund seine eigene Definition, er spricht vom Wolf im Schafspelz.
Wer sich in Ruhe Gedanken macht zu diesem Geschäft, stösst auf Fundamentales. Offensichtlich hat der Föderalismus in der Raumplanung versagt. Der Verfassungsauftrag wurde ignoriert. Die Kantone zeigten sich unfähig, den Gesetzesauftrag auszuführen; die banalen Vollzugsmängel sprechen Bände. Die Gemeinden sind mitschuldig, deren Autonomie macht zu vieles möglich. Um gute Steuerzahler anzulocken, ist ihnen jedes Mittel gut, auch die Schaffung von neuen Bauzonen in prächtigen Aussichtslagen. Avenirsuisse kritisiert die Vollzugsdefizite auf Gemeindeebene vehement; dieses Laisser-faire bezeichnet der Thinktank „an der Grenze zur Illegalität“. Die bestehenden Gesetze wurden nicht angewendet. Im Schweizerischen Föderalismus überlässt der Bund auch hier die Ausführung den Kantonen, die ihrerseits einen Grossteil davon an die Gemeinden delegieren.
Jetzt sollen die Bundeskompetenzen gestärkt werden. Da wird natürlich in die Kantonshoheit eingegriffen. „Der bisherige bewährte Ansatz würde damit aufgegeben“, meint zwar der Direktor der Wirtschaftsorganisation Centre Patronal in Bern.
Doch auch darüber, ob sich die kleinräumige föderalistische Zersplitterung in unserem Land bei der Umsetzung der Eidgenössischen Gesetze im Zeitalter der Globalisierung noch bewährt, darf nachgedacht werden. Die beschaulichen Zeiten, als gackernde Hühner in den Dörfern von den Miststöcken sprangen, der freundliche Milchmann an der Haustüre läutete und Bäckereien, Metzgereien und der Schuhmacher die Idylle ergänzten, sind Vergangenheit. Heute werden Hunde spazieren geführt, der UPS-Mann läutet zuhause, SUV-Monster verstellen Trottoirs und für Brot- und Fleischeinkauf fahren wir ins Grüne. Nur die politischen Strukturen zur Wahrnehmung des selbstbestimmten Gesetzesauftrags haben unverändert überlebt, aber viel Rost angesetzt.