Stehen wir heute an der Schwelle zu einem epochalen Umbruch, wie letztmals vor 2500 Jahren im antiken Griechenland? Als die Menschen zum wirklichen Denken erwachten? Entsteht vor unseren Augen eine neue Wirklichkeit? „Einst ahnten die Menschen, dann glaubten sie. Heute wissen wir vieles – können wir morgen verstehen?“*
Verändertes Zeitbewusstsein
Bei Jean Gebser entlehnt ist der Satz: „In diesem Buch wird über das Wesen einer neuen Welt, eines neuen Bewusstseins Bericht erstattet“. Konzipiert hatte der Schweizer Kulturphilosoph sein Hauptwerk „Ursprung und Gegenwart“ 1932, also vor 82 Jahren. Bemerkenswert. Gebser wollte damit einen Beitrag leisten zur Geschichte der menschlichen Bewusstwerdung, wie er sich ausdrückte. Dazu strukturierte er sie in Epochen – für unsere Zeit sprach er von der „integralen“. Ihre charakterisierenden Wegmarken waren für ihn: Transparenz, Ganzheit und Vierdimensionalität. Wir stehen an einer entscheidenden Denkwende, schrieb er 1973, kurz vor seinem Tod.
Die digitale Revolution
Wer in langen Zeiträumen denkt – Epochen dauern hier Jahrhunderte – stellt fest, dass die „integrale“ Epoche zurzeit mit ihrem „Aushängeschild“, den integrierten Schaltungen (also den auf einem Chip untergebrachten elektronischen Schaltungen, die z.B. als Prozessoren in Computern als Rechen- und Steuereinheiten dienen), dominierende Wirklichkeit geworden ist mit einer Virulenz, die sich Gebser wohl nicht hätte träumen lassen. Sowohl „integral“, als auch „integriert“ wird im Duden mit „zu einem übergeordneten Ganzen dazugehörend oder zusammenschliessend“ definiert. Die digitale Revolution ist in vollem Gange. Sie hat das Zeug, sich in alle Bereiche unseres Alltags auszudehnen. In diesem Sinne könnte man sogar von einem grossen Ganzen sprechen.
Die aktuelle Zeitenwende
Während wir uns in der Schweiz vornehmlich mit uns selbst befassen, mit Überfremdungs- und Einwanderungssteuerung als Beispiel, durchquert die globalisierte Welt gerade eine veritable, höchst unruhige Zeitenwende. Und obwohl in der EU unverrückbare Grundrechte noch wortgewaltig verteidigt werden, mehren sich die Anzeichen, dass einzelne Folgen dieser vormals sinnvollen Teilkonzepte - durch deren unbeabsichtigten oder unvorhersehbaren Auswirkungen - eine zerstörende Wirkung entwickeln könnten.
Während Putin ins Denkschema eines überwunden geglaubten Jahrhunderts zurückfällt und die neorussische Revolution gleich selbst inszeniert, sind sich in den USA Ökonomen, Investoren und Politologen uneins, ob wir gerade Anzeichen des Endes einer wachstumsgetriebenen Wirtschaft erleben. Renommierte Forscher des MIT (Massachusetts Institute of Technology) signalisieren ihrerseits: Die Welt befindet sich an der Pforte zur digitalen Revolution. Ihre These: Wir erleben sowohl das Ende des Wachstums (des alten Denkens?), als auch den Beginn eines neuen Zeitalters, in dem unser Leben inklusive Wirtschaft neu erfunden wird. Dieses neue Denken fokussiert auf einer Art Renaissance des Maschinenzeitalters, diesmal jedoch im Verbund mit digitaler Technik. Die Ära der Digitalisierung hat begonnen. Unruhige und unsichere Zeiten!
Gewinner und Verlierer
An dieser Stelle soll nicht darüber befunden werden, ob die Entwicklung, wie sie die beiden Vordenker des MIT (Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee) ausführlich beschreiben, gut oder schlecht ist. Sie findet statt, ob wir einverstanden sind oder nicht. Doch kann es nicht schaden, sich einige der Folgen vor Augen zu führen.
Die digitale Technologie – also hardware, software, networks – wird vieles umkrempeln. Berufe wie Ärzte, Anwälte, Steuerberater, Piloten usw. werden davon berührt; ja sie könnten unter Druck geraten, da Computer viele Probleme umfassender bewältigen werden. Die enormen Datenmengen werden die Produktion, den Detailhandel, Infrastruktur und Logistik transformieren. Weniger Menschen werden Arbeit finden, während Produktivität und Profite steigen dürften. Die Ungleichheit und die damit verbundenen gesellschaftlichen Verteilkämpfe werden zunehmen. Und die politischen Konsequenzen? Unsere Demokratien sind gefordert.
Wenn sich heute in den USA das Gespenst eines neuen Klassenkampfes abzeichnet, sollten wir gewarnt sein. Wenn die Mittelschicht unserer Gesellschaften auseinanderbricht (weil sie von der Entwicklung bestraft, statt belohnt würde), ist das Nährboden für Aufruhr, Agitation – oder Karl Marx.
Immense Auswirkungen
Im Januar 2014 schrieb der Economist unter dem Titel: „Die Auswirkungen der heutigen Technologien auf die Berufswelt von morgen werden immens sein und kein Land ist darauf vorbereitet“. Technologischer Fortschritt hat die Welt zum Guten verändert, auch wenn dadurch Berufsgruppen eliminiert, überflüssig wurden. Waren es bisher eher Routinejobs, die ersetzt wurden, sind es heute - dank exponentiellem Wachstum der Komplexität integrierter Schaltkreise (Moore’s Law) und BIG DATA - Computer, die auch komplizierte Aufgaben billiger und effektiver erledigen.
Der Economist warnt eindringlich: Im 19. Jahrhundert brauchte es die Drohung der Revolution, um progressive Reformen in die Wege zu leiten. Die heutigen Regierungen täten gut daran, die nötigen Konsequenzen aufzugleisen, bevor die Menschen wütend werden.
Auch die neueste Nationalfondsstudie weist darauf hin, dass die Lohnquote aus oben genannten Gründen in der Schweiz sinken dürfte, was tendenziell zu einer grösseren Verteilungsungleichheit in unserer Volkswirtschaft führen wird. Dies könnte den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft schwächen, warnen sie.
Neue Bildungsziele
Neben dem Skizzieren der technologisch bedingten Umwälzungen – die Fülle ist sehr lesenswert – halten die beiden Autoren Brynjolfsson und McAfee in ihrem Buch „The Second Machine Age“ ein eindringliches Plädoyer für drastische Bildungsreformschritte. Insbesondere Gymnasien legen sie ans Herzen, ihre Ausbildungsziele rasch der technologischen Entwicklung anzupassen, damit die jungen Menschen mit dem neuen Zeitalter und seinen veränderten Anforderungen Schritt halten können.
Grossangelegte Tests an Colleges in den USA zeigen ein alarmierendes Manko an solchen skills: Erkennen von grossen Zusammenhängen, Fähigkeit der Ideenentwicklung, Beherrschung komplexer Kommunikation. Anstelle von Multiple-choice-Antworten fordern die Autoren die Förderung analytischen Argumentierens und kritischen Denkens, sowie geschriebener Kommunikation (!). Ihr Ratschlag: wöchentlich 40 Seiten eines guten Buches lesen und 20 Seiten korrekt schreiben - sollten die Studenten.
Arbeit, Wohlstand und Fortschritt
Wir leben im Zeitalter der „brillanten Technologien“, so Brynjolfsson und McAfee. Gebser benannte eine der Manifestationen der neuen Epoche „die Zeitfreiheit der vierten Dimension“. Heute reden wir von der Gleichzeitigkeit des Internets und die Vierdimensionalität (das Betrachten aus verschiedenen Blickwinkeln) in Computersimulationen ist längst Alltag. Als Voraussetzung zur Bewältigung des Zeitenschocks nannte Gebser „das Durchsichtigmachen unserer Existenz“ – heute ist die Forderung nach Transparenz in aller Munde. Zwischen Gebser und Brynjolfsson/McAfee liegen gute 80 Jahre.
Der Versuch, unsere Zeit und den technologischen Wandel, diesen „Fortschritt“ verstehen zu wollen, ist eine Herkulesarbeit.
*Christoph Zollinger: „EPOCHALER NEUBEGINN – Update nach 2500 Jahren“ (2011), Europäischer Hochschulverlag, Bremen