(Vierteilige Serie, 1/4)
2/4: Steigende Ungleichheit?
3/4: Wer schweigt, schadet der Heimat
4/4: Ideologische Populisten attackieren Demokratien
„Kopf: ich gewinne, Zahl: du verlierst!“ Diesen Satz, den man am besten zweimal liest, hat der demokratische Politiker Andrew Cuomo, New York, in einem Bericht über die Banker geprägt. Die Kaste der Manager und die Ausbeutung der Arbeitnehmenden im 21. Jahrhundert waren sein Thema. In „revolutionären“ Umbruchszeiten wie momentan ist es höchste Zeit, das westliche, kapitalistische System etwas zu durchleuchten.
Das wirtschaftliche System
Das System ist ziemlich krank. Gemeint ist erstens unser Wirtschaftssystem, das schweizerische, das europäische, das amerikanische. Erschreckt durch Brexit und Trump realisieren auch weniger wirtschafts- oder politisch interessierte Kreise der westlichen Bevölkerung, dass es wohl im gesellschaftlichen „Vulkankrater“, nach jahrelangem Brodeln und Dampfen, zur Eruption von glühender Lava gekommen ist. „Nicht voraussehbar“ als Entschuldigung der Verantwortlichen gilt allerdings nicht mehr.
Das Debakel zeichnet sich seit längerem ab. Die Unzufriedenheit grosser Teile der Bevölkerung und deren Reaktion, Druck abzulassen - wie in Grossbritannien oder den USA im letzten Jahr – hat Schlafwandler und Ignoranten kalt erwischt. Der giftige Cocktail aus Folgen der Immobilien- und Finanzkrise seit 2007 und der Angst vieler Menschen vor den Folgen der Globalisierung und technologischen Revolution hat dazu beigetragen, dass die Integritätskrise des Systems sichtbar wurde. So kann es nicht weitergehen.
„Das Kapital“
Das erste Kapitel des seit bald 150 Jahren Verwirrung stiftenden Werks des Philosophen, Ökonomen und Gesellschaftskritikers Karl Marx beginnt mit dem Satz: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung.“
Es geht in meinem Beitrag nicht um eine verklärte Rückschau auf Klassenkampf und Ideologien. Doch wollen wir der Frage nachgehen, ob die von Marx vorhausgesehenen Probleme des Kapitalismus und der wachsenden Ungleichheit, mit etwas Verspätung und aus anderen Gründen, zu einer „Revolution“ führen könnten.
Entgegen Marx‘s Vorhersagen hat der Kapitalismus und die Globalisierung in den letzten 150 Jahren eine runde Milliarde Menschen aus der Armut befreit. Das ist beachtlich und wird oft vergessen. Gleichzeitig aber werden jetzt Nachteile dieses Wirtschaftssystems erkannt: In den entwickelten Industrienationen (z.B. USA und Grossbritannien) sind von der Mittelklasse der arbeitenden Menschen viele aus den Segnungen dieses Trends hinausgefallen. Allein in den USA sind es 25 Millionen, vornehmlich aus der weissen Mittelschicht.
Unblutige „Revolution“ in den USA
Ist die von Karl Marx erhoffte Revolution – allerdings glücklicherweise nicht im Sinne des Erfinders – im Anzug? Sie manifestiert sich vorerst durch die Stimme des Volkes: lange vergessene Arbeiter wandten sich per Abstimmung oder Wahl gegen die mächtigen Eliten. Diese wurde auf dem falschen Fuss erwischt. Was sind denn Brexit oder „Trexit“ anderes als Vorboten einer Revolution? Da melden sich Menschen gegen „die da oben“ und abgehobene Politikerkasten, „denen sie ihre ganze Verachtung vor die Füsse werfen“ (ZEIT). Früher nannte man das Klassenkampf: Proletariat gegen Bourgeoisie.
Bevor wir über diese Frustrierten urteilen, sollten wir versuchen, sich in ihre Situation zu versetzen. Ihre Arbeitsplätze wurden ins Ausland ausgelagert. Oder es übernahmen Roboter zusehends ihre Arbeit oder verrichten diese zu einem Fünftel der einstigen Lohnkosten. Die Hypotheken auf ihrem Haus wurden gekündigt, wer nicht zahlen konnte, stand draussen. Und da kommen die Heilsbringer, die ihnen Erlösung aus der Misere versprechen.
Beispiel? Steve Bannon, Trumps Chefstratege wörtlich gemäss NZZ am Sonntag einem Interview mit „Daily Beast“ 2013: „Ich will das ganze System zu einem krachenden Kollaps bringen und das gesamte heutige Establishment zerstören.“
Solche Rezepte werden sich als untauglich erweisen. Selbst Marx, dessen theoretischen und spekulativen Ideen scheiterten, würde darüber lächeln. Strafzölle, gekündigte Handelsabkommen, Austritt aus Friedensprojekten, hochgezogene Grenzmauern gegen „Feinde“ – solche Verheissungen der Ideologen sind nicht nur falsch, sondern gefährlich.
Die Rolle der Manager
Auch über die Rolle der Manager äusserte sich Marx. Allerdings nannte er sie „Dirigenten“, er unterschied damit klar zwischen Eigentümern von Unternehmen und deren Repräsentanten, die er „Zwitterwesen“ zwischen Kapitalist und Proletariat nannte. Realisieren wir eigentlich, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts die exorbitanten Managergehälter und –bezüge die Eigentümer dieser Firmen – über Aktien auch Lebensversicherungen, Pensionskassen und kleine Investoren – Abermillionen kosten? Dagegen ist nichts einzuwenden, verteidigt sich die Kaste selbst, oder, noch eine Stufe phantasieloser, der Markt verlangt das (15 Vorstandschefs der grössten deutschen Konzerne verdienen durchschnittlich 6.1 Millionen Euro jährlich). Werden Spitzenmanager wegen schlechter Performance entlassen, kassieren sie skandalöse Abfindungsbeträge, die das Zwanzigfache eines Jahreseinkommens einfacher Arbeiter weit übersteigen können.
„Boni ohne Leistung“ titelte DIE ZEIT 2016 einen viel beachteten Beitrag. „Die marktgerechte Entlohnung von Topmanagern ist ein Mythos, der ihnen nutzt – und der Demokratie schadet.“ Das Geld ist ja nicht die ganze Misere, die hier angerichtet wird. Viel gravierender sind die Langzeitfolgen in den Gesellschaften. Wie das Beispiel USA zeigt, hat die Spaltung der Gesellschaft unerhörte Dimensionen angenommen und sich jetzt unüberhörbar Luft gemacht.
Offensichtlich scheint das die hier kritisierten Manager nicht weiter zu stören. Wie sollte es, sie sind ja untereinander bestens vernetzt. Ignoriert werden die Nebenwirkungen dieser „Krankheit“: Aus den lokalen, gesellschaftlichen Brandherden USA und Grossbritannien könnten sich globale Flächenbrände entwickeln, deren Schadensummen explodieren und auch die Grundlagen der als krisenresistent beurteilten Branchen und deren Manager mit ihrer „ungeheuren Warensammlung“ selbst gefährden könnten.
Auch die Schweiz wäre davon direkt betroffen.
Kontraproduktive Geldpolitik
2008 lag es mit der globalen Geldpolitik im Argen, nicht wenige Grossbanken (auch UBS und CS) lagen auf der Intensivstation, den Zentralbanken (in der Schweiz die Nationalbank). Diese „operierten“ rechtzeitig und retteten ihnen das Leben. Nachhaltig war dieses System allerdings nicht. Wir nennen die von Marx verwendete makroökonomische Theorie der Krisen heute anders, „säkulare Stagnation“ tönt besser.
Doch inzwischen werden die anhaltenden Interventionen der amerikanischen (FED) und europäischen Zentralbanken (EZB) selbst zur Ursache neuer Verwerfungen. Während sich in den USA infolge steigender Inflation und Beschäftigungsraten eine Besserung abzeichnet, verharrt die EZB in Deckung. Sie vernebelt die wahren Gründe ihrer Tief- resp. Negativzinspolitik, unter denen weit herum Sparer und Institutionen leiden. Vordergründig soll damit die Investitionslust von Staaten und Wirtschaften angekurbelt werden. Hinter vorgehaltener Hand ist klar, dass damit die Rettung überschuldeter Firmen und Staaten in Südeuropa angestrebt wird.
Das politische System
Jetzt zum zweiten Teil unseres Systems. Das Wirtschaftssystem ist offensichtlich allein nicht in der Lage, eine Wende zum Besseren zu schaffen. Es braucht jetzt politische Kräfte, die nicht nur verwalten, sondern Führungsqualitäten entwickeln. Fachleute fordern „inklusives Wachstum“ anstelle des ihrer Meinung nach ungenügenden Wirtschaftswachstums. Gemeint ist damit nach dem Jargon der OECD: «Inklusives Wachstum ist ein ökonomisches Wachstum, das für alle Teile der Bevölkerung Möglichkeiten schafft und das die Früchte des erarbeiteten Wohlstands, in geldlicher wie in nicht-geldlicher Form, fair in der Gesellschaft verteilt».
Diese Forderung ist weder neu, noch wird sie allein weiter helfen. Natürlich sorgt das anhaltende Bevölkerungswachstum an sich für Wachstum. Es braucht daneben aber Investitionen in die „nachhaltige Produktivität“: Ausbildung, Weiterbildung, Infrastrukturoptimierung, flexiblere Arbeitsmärkte, sinnvolle Regulierungen, Rechtsstaatlichkeit und offene, faire Märkte.
Das Abstimmungsresultat vom 12. Februar 2017 über die Unternehmenssteuerreform III ist ein Fingerzeig für die Politik. „Das Volk“ war klüger als viele politische Entscheidungsträger. Die Reaktionen desavouierter Befürworter sind entlarvend: Bundesrat Ueli Maurer: „Das Volk war überfordert“, der Zürcher Regierungsrat Ernst Stocker auf die Frage, haben Sie etwas falsch gemacht: „Nein“.
Gewerbeverbandsdirektor Hans-Ulrich Bigler auf Vorschläge zur Streichung von Aktionärsprivilegien: „Solche dürfen kein Thema sein“ und FDP-Chefin Petra Gössi: „Unsere Bases steht hinter der Vorlage“. Sturheit, Unbelehrbarkeit, Unverständnis zeigen, dass die Situation, der Weckruf, immer noch falsch verstanden wird. Kompromissfähigkeit und Lösungsorientierung sehen anders aus.
Unser System istdas grossartige Resultat der Vorgenerationen: Rechtsstaat mit Gewaltentrennung und demokratischer Kontrolle sowie politische Kompromissfähigkeit bilden das Fundament unseres Lebensverständnisses. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Gegner dieses Systems nicht nur in den USA und Grossbritannien, sondern auch anderswo versuchen, den Gesellschaftsraum mit egoistischen oder ideologischen Eigeninteressen zu vereinnahmen. Doch „das Volk“ ist argwöhnisch geworden und aufgewacht. Es beginnt, sich gegen solche Trends zur Wehr zu setzen. Es hat erkannt: etwas stimmt nicht mehr mit unserem System.