Gross, grösser, am Grössten heisst seit sechs Jahrzehnten die Devise in den Topetagen der Wirtschafts-Multis. Das unersättliche Wachstum wird durch Firmenübernahmen vorangetrieben. Durch Aufkauf der Konkurrenten entstehen Kolosse, deren schiere Grösse und Macht nachdenklich stimmen müssen. Waren von den fünf Grössten noch vor kurzem deren vier Banken, erscheint zurzeit die grösste Bank auf Platz 21 (Fortune Global 500). Dazwischen liegt der Crash, der weltweit die Staaten zur Rettung des globalen Banken- und Wirtschaftssystems auf den Plan gerufen hat. Haben wir diesen Warnschuss verstanden? Nein. Mit einer gigantischen Anhäufung von Schulden wurde "gerettet", was als systemrelevant nicht Bankrott gehen durfte. Die nächsten Generationen werden sich bedanken. Mit der Grösse steigt das Risiko. Von den zehn grössten Unternehmen weltweit sind momentan sieben in der Öl- und Gasbranche tätig – mit der Ausbeutung nicht erneuerbarer Energien. Royal Dutch Shell auf Platz 1 bringt es auf einen Jahresumsatz von 458.361 Mrd. $ (458'361'000'000'000 $), was ziemlich genau dem zehnfachen des BIP (Schweizerisches Bruttoinlandprodukt/Jahr) entspricht. Auch diese nächste Blase wird eines Tages platzen.
In den vergangenen 60 Jahren ist die Weltwirtschaft stärker gewachsen als vom Beginn der Zeitrechnung an bis zum Zweiten Weltkrieg. Doch warum brauchen wir Wirtschaftswachstum? Die lehrbuchmässige Begründung lautet: weil dadurch der individuelle Nutzen der Wirtschaftssubjekte steigt, frei übersetzt etwa: der Mensch braucht Wachstum, weil es ihn glücklich macht. Weil er den Wohlstand geniesst. Wenn dem tatsächlich so wäre, müssten wir dann nicht alle unendlich, ja unvorstellbar glücklich sein? Lesen Sie bitte nochmals den ersten Satz dieses Absatzes: nach 60 Jahren explodierenden Wirtschaftswachstums müssten wir also alle mindestens tausendmal glücklicher und zufriedener sein als unsere Vorfahren. So die Lehrmeinung. Vielleicht stimmt sie gar nicht? Und nun die ungebetene Weltwirtschaftskrise! Zeit zum Nachdenken? Etwa darüber, was die Folgen eines Wirtschaftsrückgangs wären? Offensichtlich fehlt diese Zeit, die Zeit drängt vielmehr und so überbieten sich gegenwärtig alle Regierungschefs der Welt mit Rezepten, wie der steigenden Arbeitslosigkeit zu begegnen sei: die Unternehmen müssen rasch wieder steigende Umsätze erzielen, dies ist das einzige politische Ziel, das von West bis Ost mehrheitsfähig ist. Mehr desselben als Lösungsansatz, das wusste der berühmte Paul Watzlawick, ist eines der wirkungsvollsten Katastrophenrezepte. (Dazu zähle ich z.B. Abwrackprämien für alte Autos).
Wachstumszwang als Leitmotiv eines Jahrhunderts in Politik und Wirtschaft – ist das nicht eher eine naiv "geglaubte" Doktrin, unabhängig davon, ob sie haltbar ist oder nicht? Unendliches Wachstum auf einer Erde von endlicher Grösse? Unser auf Wachstum angelegtes Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell als Ganzes braucht Rohstoffe, die nicht unendlich verfügbar sind. Ein solches System muss eines Tages kollabieren. Warum sich nicht heute schon Gedanken über eine mögliche Post-Wachstums-Ökonomie machen? Der emeritierte Wirtschaftsprofessor Hans-Ulrich Binswanger (Uni St. Gallen), einer der bedeutendsten Wachstumskritiker, geisselte die überzogenen Renditeziele vieler Aktiengesellschaften, die für den daraus resultierenden Wachstumszwang verantwortlich seien. Auch der Club of Rome macht sich seit 40 Jahren Gedanken über die Grenzen des Wachstums und wird dafür von Wirtschaftslobbys kritisiert. Dabei wird übersehen, dass von quantitativem Wachstum die Rede ist. Qualitativ könnte die Wirtschaft sehr wohl weiter wachsen.
Wenn sich Grosskonzerne heute noch mit Renditezielen von 10 – 25% brüsten und sich deren Kapitalbesitzer darüber freuen, reflektieren beide ein nicht vernetztes, überholtes Denkgebäude. Dass dieses Gehabe noch belohnt wird durch ein unappetitliches Bonus-System ist bezeichnend. Dass die Politik mit einfallslosen Konjunkturpaketen dieses alte, nicht nachhaltige Denken noch unterstützt, ist bedenklich. Wie unser persönlicher Beitrag in dieser ungemütlichen Situation aussehen könnte? Vielleicht müssen wir alle etwas bescheidener werden?