Das überwältigende Fiasko, angerichtet in den Topetagen dreier einstiger Schweizer Vorzeigeunternehmen, erschüttert das helvetische Selbstvertrauen. Die gigantische Wertvernichtung (ca. 60%) im Gefolge der Aktiencrashs dieser einheimischen Börsenschwergewichte (UBS, CS, Swiss Re) lässt private und institutionelle Investoren erbleichen. Dass so etwas in der Schweiz überhaupt möglich ist? Erst noch schütteten wir den Kopf über die Amerikaner, die doch mit ihrem Leben auf Pump selber Schuld waren an der spektakulären Banken- und Versicherungspleite. Aber in der Schweiz? Wo wir doch, angeführt von den wackeren Rechtsaussenpatrioten, erfolgreich für Freiheit, Unabhängigkeit und Neutralität kämpfen. Wird unser Land jetzt gar von Innen bedroht? Nachdem wir die "Vögte von Brüssel" erfolgreich auf Distanz halten. Wehren wir uns gar an der falschen Front?
Wer den Menschen – nicht die Umstände – als Ursache der immer bedrohlicher werdenden Weltwirtschaftskrise bezeichnet, liegt richtig. Vor den Fehlleistungen jener abgehobenen Schicht von Casino-Playern, die durch Selbstüberschätzung dieses Debakel herbei geführt haben, ist jedoch seit Jahren gewarnt worden. Die Unkenrufe verhallten ungehört in der Tageshektik. Das Schlechte braucht das Schweigen der Mehrheit.
Bevor wir uns an die Wiederaufbau machen, sollten wir bedenken, dass es nicht genügt, die Trümmer wegzuräumen, Baumaterial (staatliche Finanzmittel) herbeizukarren und wieder aufzubauen. Vorab müssen wir dafür sorgen, dass in Zukunft andere Menschen mit anderen Wertvorstellungen als CEO und VR die Verantwortung übernehmen. Das typisch kleinschweizerische Old-Boys-Netzwerk alter Schule des 20. Jahrhunderts muss verschwinden. Der angerichtete Schaden ist zu hoch.
Vielleicht sollten wir also vorgängig das Problem Mensch thematisieren? Was wir in den letzten 30 Jahren der unwidersprochenen Wachstums- und Gierhysterie erlebt haben ist ja kein nur schweizerisches Phänomen. Nur haben wir diese Entwicklung mit gut schweizerischer Zuverlässigkeit noch perfektioniert. 2500 Jahre zivilisierter Menschheitsentwicklung lehren uns, dass der Mensch schon immer "so" war. Wie sonst wäre es zu erklären, dass Platon – enttäuscht über die damalige politische Situation - jene utopischen Gedanken des Idealstaates wälzte, der seinen Bürgern durch Mässigung der Begierden und der Idee des Guten bessere "Rahmenbedingungen" zur Verfügung stellen wollte? Oder gar Sokrates, der schon vorher das Scheinwissen seiner Mitbürger und der Obrigen entlarvt hatte und sich etwa fragte, ob jemand überhaupt über Tugend sprechen könne, bevor er erkannt hat, was Tugend ist.
2300 Jahre später setzte sich Nikolaj Gogol, das grosse literarische Talent, mit jenen Zeitgenossen auseinander, die für höhere Persönlichkeiten gehalten wurden. Es ging Gogol um die Besserung des Menschen als Vorbedingung zur Besserung der Gesellschaft. Dabei legte er den Finger auf einen wunden Punkt: Er entlarvte mit Komik und Virtuosität die Welt der Scheinwerte, Scheinbegriffe und Scheinexistenzen. Schein ist das innerste Weltgesetz, davon war er überzeugt. Und er hängt uns den Spiegel vor den Kopf: Wir täuschen uns fortgesetzt in dem, was der andere ist, doch Täuschung ist immer auch Selbsttäuschung. Wenn Gogol die Korrumpierung des Menschen durch das Geld und gleichzeitig die Missstände der Institutionen geisselt, tönt das nicht recht zeitgemäss? Gogols Vermutung: "Alles Lug und Trug."
Kehren wir zurück in die Gegenwart. Bevor wir uns ans Aufräumen machen, sollten wir also neue Verantwortungsträger einsetzen. Wir müssen es deutlich aussprechen: Jene Gilde der Macher, jene Menschen, die vor lauter Ausblendung unliebsamer Erkenntnisse einen unrealistischen Röhrenblick und einen perfektionierten Verdrängungsmechanismus entwickelt haben, gehören nicht in die Topetagen der Wirtschaft und Politik. Ihnen fehlt das ganzheitliche Weltverständnis, ohne das ihre Entscheide immer unvernetzte Scheinantworten bleiben. Was wir jetzt brauchen, sind verantwortungsvolle Menschen, solche, die anders denken als ihre Vorgänger. Sozusagen schweizerische Barack Obamas? Wenn die Krise auch Chance sein soll, müssen die neuen Entscheidungsträger des 21. Jahrhunderts nicht giergetrieben oder ideologieverblendet sein.
Wer übernimmt in unserem Land die Verantwortung, dass die Chancen der Krise genutzt werden? Der Bundesrat? Das Parlament? Die politischen Parteien? Die Aktionäre? Die Schweiz hat kein Zukunfts-Konzept. Die Planung der Zukunft wäre keine schlechte Investition.