Zum Jahresausklang thematisiere ich aus aktuellem Anlass «Transparenz als Schlüssel zur Moderne»1. Seit ich 2001 das Manuskript zu meinem ersten Buch schrieb, hat sich der Begriff Transparenz in der allgemeinen Wahrnehmung gewaltig hochgearbeitet. Wurde ich damals auf den Redaktionen belächelt und etwas ungläubig gefragt: «Transparenz, was soll das?», finden sich in denselben Medien heute täglich hochaktuelle Beiträge zur Thematik. Damals schrieb ich: «Das Durchsichtigmachen eines unerklärbaren Zustands, das Durchscheinende als Vorbote einer Lösung, das Durchdringen einer ‚Nebelwand’, die Transparenz als Erscheinungsform der Zukunft, diese ganzheitliche, überwältigende neue Wirklichkeit, führt sie zur Durchsichtigkeit des 21. Jahrhunderts?»
Fehlende Transparenz in Politik und Wirtschaft mit allen ihren schwerwiegenden Folgen für die Gesellschaft wird vom emanzipierten, engagierten Menschen nicht mehr akzeptiert (siehe dazu auch durchschaut! Nr. 6, 34, 42). Undurchsichtige Vorgänge in Regierungen und Konzernen werden ans grelle Licht gezerrt, publik gemacht, angeprangert. Sie führen zu Aufständen (südlicher Mittelmeerraum), Demonstrationen der Bevölkerung in New York (Occupy Wall Street) und anderswo, Abwahlen von Regierungen (Labor in Grossbritannien), Entlassungen von Ministern (Karl-Theodor zu Guttenberg in Deutschland), Sanktionen gegen Länder (Schwarze Liste der OECD gegen die Schweiz), Anklagen von Managern (CEO der BVK des Kantons Zürich). Die Liste liesse sich beliebig verlängern. Ermöglicht wird die Zäsur massgeblich durch die Internetwelt: Innert Stunden sind Missstände im Netz, innert Tagen kennt die Welt (oder: im Kleinen – die Schweiz) die Sünder.
Entwickelt sich ein Thema mit den Jahren – entgegen den früheren Einschätzungen von Redaktionen – zum Dauerbrenner, schwenken die professionellen Kommentatoren rasch einmal um. So schrieb die Weltwoche schon 2010: «Wikileaks ist weder gut noch böse, sondern ein heilsamer Schock.» Und Constantin Seibt meinte im Tages-Anzeiger: «Wikileaks: Die Presse verliert nach dem Nachrichtenmonopol auch noch das Monopol auf Informanten.» Doch so richtig los mit eindringlicher, neuer Transparenz-Berichterstattung ging es 2011. Auch alte Tanten im Medienbereich erwachten. So lesen wir in der NZZ: «Goldmann sucht Transparenz.» Im Demokratiebarometer der Uni Zürich wird, zum Ärger des Redaktors, die Schweiz als ‚demokratisches Mittelmass’ eingestuft, Transparenz ist eine von neun Funktionen, die bewertet werden. Und: «Der Konkordanz im polarisierten Parteiensystem fehlt es an Transparenz und Glaubwürdigkeit.» Oder, wenig später: »Transparenz- und Ausgabenbeschränkungen würden regelmässig umgangen. Schliesslich im Oktober: «Mangelnde Transparenz in der Medienarena»; bei dieser Selbstkritik ist gemeint, dass die Medien ihre Informationsquellen oft zu wenig transparent machten. Hört, hört!
Wo in Zürich plötzlich so oft zur Transparenz geschrieben wird, darf natürlich der Tages-Anzeiger nicht zurückstehen. Bereits im Februar 2011 finden wir im Zusammenhang mit Steuerschlupflöchern im Land, «dass schnell vollständige Transparenz hergestellt werden muss im Bericht der Finanzkommission». Und wenig später, im Nachgang zur vom Volk abgelehnten BVG-Regelung, schreibt Rudolf Strahm: «Da ist erstens einmal die fehlende Kostentransparenz bei Vermögensanlagen.»
Dass in der Schweiz die Parteienfinanzierung noch immer «Geheimsache» ist, wer kann denn daran überhaupt ein Interesse haben? »Die Schweiz ist neben Schweden das einzige europäische Land, das keine Regulierung der Politikfinanzierung kennt», schreibt dazu DIE ZEIT. Ergänzend der TA: «Blocher ist als Financier der SVP ein vehementer Gegner einer Offenlegungspflicht der Parteien.» Dass daraus gefolgert wird, dass Politik käuflich wäre, wen verwundert es? Der TA stellt lakonisch fest: «Transparenz schafft Vertrauen», oder: «Selbst für die Mitglieder der Partei und für die bisherigen Parlamentarier sind die Finanzquellen intransparent». Warum sind rechtsbürgerliche Kreise nicht bereit, ein legitimes Informationsbedürfnis gerade jener Minderheit im Lande zu befriedigen, die sich überhaupt mit Politik befasst? Wovor haben sie Angst? In einer Studie zur Demokratiequalität der Schweiz heisst es dann auch schwarz auf weiss: «Unzureichende Gewaltenkontrolle, intransparente Parteienfinanzierung – die Schweiz zählt nicht zu den besten Demokratien der Welt». Im September 2011 werden die Medien noch konkreter: «Die vielschichtige Forderung nach mehr Transparenz in der Politik wird lauter.» Und im Vorfeld der Wahlen Oktober/November für Bern ist vom Antikorruptionsorgan Greco des Europarats die Rede, erneut riskiert die Schweiz auf eine schwarze Liste gesetzt zu werden.»
Keine Freude an diesem Trend nach mehr Durchsicht hat begreiflicherweise die Lobby-Organisation economiesuisse der Schweizer Wirtschaft. So schreibt Thomas Pletscher im Oktober 2011: «Transparenz ist mit unserem Milizsystem nicht vereinbar», und meint damit tatsächlich, dass die Finanzierung von Abstimmungs- und Wahlpropaganda nicht öffentlich gemacht werden soll2. Kommentar überflüssig. Auch die Staatspolitische Kommission (SPK) entschied sich – exakt fünf Tage nach den Nationalratswahlem im Oktober – dafür, geschlossen zwei Vorstösse für neue Transparenzregeln abzuschmettern. Die Kommission setzte sich damals noch vornehmlich aus älteren Herren der SVP, FDP und CVP zusammen. Es bleibt die Hoffnung, dass diese ewiggestrige Mehrheit im neuen Parlament kippen wird.
Seit einiger Zeit gilt in der Schweizer Politik das Öffentlichkeitsprinzip , nachdem sich vorher das Geheimhaltungsprinzip3 noch viel zu lange halten konnte. Auch die Entscheide von Strafverfolgungsbehörden und Gerichten müssen für die Öffentlichkeit zugänglich sein, sagt das neue schweizerische Prozessrecht. «Gerichte tun sich schwer mit Transparenz», lesen wir denn auch. Während die Entscheide des Bundesgerichts jetzt in Lausanne öffentlich aufgelegt werden und jene des Zürcher Obergerichts im Internet nachgelesen werden können, sabotieren andere Kantone nach wie vor das legale Anrecht der Öffentlichkeit auf Einsicht in die Entscheide der Justiz- und Strafverfolgungsbehörden.
Weltweit hat der Begriff Transparenz Karriere gemacht. Am eindrücklichsten nachzulesen ist das im Economist, eines der wenigen ernst zu nehmenden Printmedien, die weltweit gelesen werden. Unter dem Titel: «Transparency is the new objectivity», heisst es im Juli 2011 sinngemäss: Transparenz ist die neue Objektivität und sie ist die Basis, auf der die Leserschaft Vertrauen aufbauen kann4. Gestützt wird diese Forderung durch die Einsicht, Daten und Quellen offen zu legen, ein Vorgang, der durch das web (www.) erleichtert wird.
Transparenz als Schlüssel zur Moderne. Die Vision mutiert zum Fundament.
1 Christoph Zollinger, 2002: «Die Glaskugel-Gesellschaft, Transparenz als Schlüssel zur Moderne.»2 SALDO Nr. 17 vom 26. Oktober 2011.
3 Öffentlichkeitsprinzip: Gemeint ist, dass neu politische Vorgänge (mit wenigen begründeten Ausnahmen) dem Volk zugänglich sein müssen. (Das Weihnachtswunder vom Dezember 2011: Erstmals veröffentlicht die Bundesverwaltung die Liste der Zutrittsberechtigten zu den Wandelhallen im Bundeshaus. Jeder Parlamentarier darf zwei Personen seiner Wahl permanenten Zutritt verschaffen, erstmals wissen wir jetzt, welche Lobbyisten zu den Bevorzugten gehören: www.parlament.ch).
4 «To use transparency, rather than objectivity, as the new foundation on which to build trust with the audience», The Economist, July 9th 2011.