Eigenartig: da behauptet eine Volkswirtschaftsprofessorin, die Generation 50plus sei verunsichert. Und: gemäss CS-Sorgenbarometer 2014 ist die grösste Sorge der Schweizerinnen und Schweizer die Angst vor dem Jobverlust. Um das Bild abzurunden: die ETH Zürich organisierte 2014 anlässlich der Brain Fair Diskussionsforen und Vorträge über Angst und Angststörungen. Wie ist das alles zu verstehen?
Angst vor der Angst?
Grassiert bei uns bald die Angst vor der Angst? Was sagte Präsident Franklin D. Roosevelt 1933 anlässlich seiner Inaugurationsrede? „Let me assert my firm belief that the only thing we have to fear is fear itself.” (“Es ist meine feste Überzeugung, dass das Einzige, wovor wir uns zu fürchten haben, die Angst vor der Angst selber ist.”)
Roosevelt, der 32. Präsident der USA (von 1933 – 1945) tat obigen Aufruf also zur Zeit der längsten und härtesten Wirtschaftsdepression der USA – the great depression ab 1929 bis weit in die 30er-Jahre. In die Geschichte eingegangen ist Roosevelt nicht zuletzt wegen seiner grossen innenpolitischen Reformen, seither genannt „New Deal“. Diese umfassten eine Serie von Wirtschafts- und Sozialreformen als Antwort auf die alles lähmende Weltwirtschaftskrise.
Von einer ähnlichen Situation sind wir weit entfernt. Nichts Vergleichbares. Doch, erleben wir heute vielleicht so etwas wie eine Weltsinnkrise?
Im Strudel des „Fortschritts“
Nach Jahrzehnten unaufhaltsamen Aufwärtstrends weht uns ein unerwartetes, kaltes Lüftchen um den Kopf. Die persönliche Karriere, gestartet vom kleinbürgerlichen, arbeitssamen Elternhausmilieu aus, stetig nach oben – nur vorübergehend eventuell gebremst durch Midlifekrise und Scheidung – ist inzwischen oben angekommen, wo es nicht mehr weiter geht. Und jetzt?
Genau in diesem Moment lesen wir in unserer Tageszeitung, hören wir am Radio, sehen wir am TV, die Zeit sei aus den Fugen geraten. Von Terror, Bürgerkrieg, Flüchtlingen, über Ebola, Hungersnöte, Ressourcenknappheit zum Staatsbankrott, Lauschangriff und Fifaskandal nähern wir uns stetig unserem persönlichen Umfeld: Dichtestress im Pendelverkehr, gnadenlose Frühpensionierungen reihum, bevorstehender AHV-Kollaps, und zu alledem die Superreichen, die ungerührt weiter absahnen. Es wird zusehends düsterer um uns herum. Doch, ist ein diffuses Angstgefühl die richtige Reaktion?
Die Angst-Pyramide
Natürlich gibt es viele Möglichkeiten, eine solche Pyramide nachzuzeichnen, je nach persönlicher Einschätzung. Meine Theorie beginnt auf der Basis unserer Multioptionsgesellschaft, Produkt des rasenden Wertewandels und der unbegrenzten Möglichkeiten. Darüber schichtet sich mit der Zeit eine verstörende Ungewissheit auf über deren Nachhaltigkeit und eine Stufe höher resultiert daraus ein gewisser Orientierungsverlust. Jetzt – sozusagen in der Mitte dieses Dreiecks – stellt sich eine grössere oder kleinere Überforderung ein, auf die wir, je nach Temperament, mit lautstarker Empörung oder orchestrierten Wutausbrüchen und Protesten reagieren. Oder eben: mit Verlustangst – ist unser Status gefährdet, was zerstört der sinnlose Terror nächstens? Oder nochmals anders: mit einer diffusen Zukunftsangst.
Warum reagieren wir mit Angst? Haben uns 70 Jahre Friedenszeiten verweichlicht?
Angst-Gesellschaft
Der Soziologe Heinz Bude – der auch schon an der Uni Zürich im Rahmen des SIAF aufgetreten ist – diagnostiziert die Ängste der Deutschen in seinem Buch „Gesellschaft der Angst“ (2014), (somit können wir Schweizer das getrost ohne Minderwertigkeitsgefühle nachlesen…). Er meint, Bürgerinnen und Bürger fürchteten sich davor, dass das Erreichte nicht an Kinder und Enkel weitergereicht und so „gerettet“ werden könnte. „Angst haben diejenigen, die was zu verlieren haben, die eine Ahnung davon besitzen, was passieren kann, wenn man die falsche Wahl trifft, die sich in ihrer Position auf der sozialen Leiter unsicher fühlen und die die Angst vor der Angst kennen. […] Aber warum ist die Welt der Mittelklassen von heute eine Welt der Angst? Als Ergebnis einer langen Periode von Friedenserhaltung, Wohlstandsmehrung und Sicherheitsgewährung…“
Die mediale Empörungswelt
Man mag sich fragen, wie diese Angst-Pyramide gewachsen wäre, ohne medialen Support und social-media-endless-shit. Die Empörungsspirale wird – auf tiefstem Niveau – hochgeschraubt. Auf Facebook und Twitter treten Zeichen der Infantilisierung an die Stelle von Diskurs und Argumentation. Hauptsache, man liest mich, liked mich.
Empörung ist an die Stelle von Engagement getreten. Worauf fusst eigentlich diese „Karriere“ eines Begriffs, der noch vor einer Generation kaum Beachtung, Resonanz und Erfolg verheissen hat? Ist sie gar das Resultat politischer Instrumentalisierung? Die gnadenlose Geisselung von Politikern (auch Bundesrätinnen), Sozialhilfeempfängern, überhaupt „die da oben“, oder die weniger weit oben, die Beamten auf ihren Ruhekissen, die Verkehrsbehinderer und Geldverteiler, zeigt sie Langzeitwirkung?
Wie dem auch sei, Empörung als Beitrag zum Bruttoinlandprodukt (BIP) ergibt nichts Zählbares. Sie ist wertlos.
Wutbürger und Protestbewegungen
Noch sind sie in der Schweiz nicht tonangebend. Anders ennet der Grenzen: in der EU gehören sie zur Tagesordnung, die Wutbürger und ihre Protestveranstaltungen. In Griechenland, Spanien, Portugal, Italien gehen sie auf die Strasse. In England, Schottland, Irland, Frankreich rumort es, nicht nur in den Parlamenten, auch auf den öffentlichen Plätzen. Sogar in Deutschland melden sie sich immer lautstarker zu Wort. Empörte überall.
Die Adresse, an die sich Wut, Verzweiflung, Ohnmacht richten: die Regierungen, das politische Establishment. Diese Manifestationen sind ernst zu nehmen. Sie deuten auf Krisen in den Demokratien hin. Oft sind unfähige Regierungen und korrupte Politiker Zielscheiben. Doch nicht immer taugt diese Antwort. Da gibt es doch auch eine Vielzahl ehrlicher Menschen in demokratisch gebildeten Regierungen, die unentwegt gegen äussere Einflüsse kämpfen: Globalisierung, Digitalisierung, Währungskrisen, Despoten und Diktatoren („Zaren“) im Umfeld ihres Wirkungsgebietes.
Radikale Theorien sind im Entstehen. Sie wurzeln in der Überzeugung, von den Mächtigen verraten, betrogen und belogen zu werden. Stark vereinfacht: „Der Feind, das ist die Troika. Oder die EU. Ganz allgemein: Die da oben, die herrschende Klasse“ („Aufstand im Kopf“, ZEIT). Hunderttausende gehen in Europa auf die Strassen, um zu protestieren: dagegen. Gegen den Euro, gegen Brüssel, gegen Renzi. Sie nennen sich „gemeinsame Front aller fortschrittlicher Kreise“ – was uns irgendwie bekannt vorkommt.
Nochmals: diese Bewegungen sind ernst zu nehmen. Es genügt nicht immer, „there is no alternative“, also Alternativlosigkeit, zu deklamieren.
Rezepte zur Veränderung
Am Anfang steht die Einsicht, dass Angst ein schlechter Ratgeber ist. Darauf folgt die Notwendigkeit, mit Instrumenten des 21. Jahrhunderts Mut und Zuversicht in der Bevölkerung zu stärken. Weniger mit nationalkonservativen Aufrufen wie „Frauen, zurück an den Herd!“, als mit tauglichen, zukunftsgerichteten Ideen wie verstärkte Investitionen in die Bildung unserer Jungen, als Beispiel.
Wichtig erscheint auch, dass in der Bevölkerung die Einsicht übernimmt, dass Populisten von links und rechts keine brauchbaren Rezepte kreieren. Deren einfache Botschaften finden anfänglich verständlicherweise viel Gehör, bis später die Ernüchterung eintritt. Unsere Probleme sind eben nicht mit einfachen Lösungen vom Tisch zu fegen. Oder kennt jemand populistische Versprechungen, die später erfüllt und erfolgreich zu Ende geführt wurden?
Hilfreich könnte sein, der aufkommenden Ära der Angst zu begegnen, indem Regierungen Verständnis dafür signalisieren, dass auf dem schwankenden Boden forcierter Globalisierung, undurchschaubarer Interneteuphorie und digitaler Revolution Gefühle der Unsicherheit und Ungewissheit völlig normal sind. Dennoch spriessen sachte zarte Pflänzchen neuer Gewissheiten. Diese sind manchmal diametral anders als die alten, vertrauten.
Der „Swiss New Deal“ könnte so gehen: Persönliche Risiken einzugehen, etwas zu wagen, statt zu resignieren, eine „Jetzt-erst-recht“- Reaktion zu generieren, aufzubrechen. Dabei wächst vielleicht die Einsicht, dass dem Staat nicht mehr, sondern weniger Verantwortung zuzuschieben ist auf dem Weg in die Zukunft. Dies ist dann zudem ein probater Weg, persönliche Sinnkrisen zu bewältigen, ja, gestärkt daraus hervorzugehen.
Wer persönliche Freiheiten schätzt, soll sich diese täglich erarbeiten. Hedonismus und Egoismus sind auf dieser Gratwanderung eher unzuverlässige Wegweiser. Es sei denn, nach erfolgreicher, persönlicher Bewältigung der Herausforderungen gelte es, den wohlverdienten Sieg über den inneren Schweinehund zu geniessen.
Literatur:
Heinz Bude: „Gesellschaft der Angst“, (2014)