Hurrikane haben enormes Zerstörungspotenzial. Durch die Kondensation riesiger Wassermassen werden gewaltige Mengen Energie freigesetzt. Treffen diese auf Land, sind Sturmfluten, Erdrutsche und Überschwemmungen die Auswirkungen. Tausende von Toten und Milliarden Dollars materieller Schäden können die verheerenden Folgen sein. Der Mensch ist der Natur ausgeliefert.
Hurrikan-Warnung über Europa
Ein „tropischer Wirbelsturm“ ist im Entstehen begriffen, die Vorhersage der Zugrichtung: Europa. Diese Metapher ist Warnruf, quasi Wetterprognose für den europäischen Kontinent, Hauptgefährdungszone ist die EU. Doch, obwohl sich Anzeichen eines Aufbaus des gefährlichen hurrikanähnlichen Wettersystems verstärken, herrscht unheimliche politische Passivität. Der Nukleus ist ein lähmendes „Tief“, in dem sich die Kräfte der Bewahrer und Reformer der europäischen Idee, des europäischen Friedensprojekts befinden. Es gibt sie zwar, doch sie finden zu wenig Gehör. Wer den jetzigen EU-Stillstand als „alternativlos“ bezeichnet, die Kapriolen ungarischer und polnischer Führer „zur Kenntnis nimmt“, die Augen verschliesst vor dem Niedergang Europas, hat nicht begriffen. Die Abwesenheit von Politik als Führungsinstrument ist bedrohlich. Das Ignorieren der Hurrikan-Warnung ist unentschuldbar. Denn, im Gegensatz zum Tropensturm, ist der Mensch dem politischen „shitstorm“ nicht machtlos ausgeliefert.
Griechenland im Fokus
Es sind keine sieben Monate her, da beherrschte die griechische Schuldenkrise die europäische Politik. Geht man noch weiter zurück, zeigt sich, dass schon die Aufnahme Griechenlands in die EU ein Missverständnis war. Das Überstülpen des Euro eine Illusion. Die Folgen Jahre später: Die EU-Krise als Schattenwurf der Euro-Krise. Und auch diesmal wurde nicht Ursachenforschung, sondern Symptomglättung betrieben. Der unumgängliche Schuldenschnitt blieb aus, um deutsche und französische Banken zu schonen. Damals fragten sich Laien, warum diese dem bankrotten Land überhaupt Geld geliehen hätten? Die Antwort: um hohe Zinsen zu generieren, die hohe Boni für die verantwortlichen Manager bewirkten. Diese wiederum vertrauten (zu Recht) auf ihre nationalen Politiker. So blieb ein erster Schritt zur EU-Reform leider aus.
Die Schuldenpolitik der EZB
Seit fünf Jahren flutet die Europäische Zentralbank (EZB) die Märkte mit frisch gedrucktem Papiergeld. Ihre Begründung: Wachstums-Ankurbelung und Förderung eines gewissen Inflationsdrucks. Allerdings: Wachstum bleibt aus, Inflation ebenfalls, ausser in Irland und Deutschland wachsen nur die Schuldenberge. Durchwursteln als europäische Strategie? Eine unheimliche Allianz aus Banken und Staaten signalisiert: „alles unter Kontrolle“. Traditionelle Marktkräfte sind ausgehebelt, Bürgerinnen und Bürgern bleibt das Nachsehen, ihr Geld und ihre Altersvorsorge verlieren jährlich an Wert. Der zweite, gebieterische Schritt zur EU-Reform bleibt ungetan. Der Wille dazu fehlt.
Das Flüchtlingsdrama
Inzwischen beherrscht die europäische Asylpolitik die Medien. Die anschwellenden Flüchtlingsströme überfordern die Nationen. Längst hat sich das Dublin-Abkommen als Papiertiger erwiesen. Ursprünglich gedacht, um die nationalen Zuständigkeiten für die Asylsuchenden zu bestimmen und ihnen damit einen speditiven Zugang zu einem Verfahren zu verschaffen, ist diese Konvention gar nie ordnungsgemäss gestartet. Zu viele Mitgliedstaaten missachten sie ganz einfach. Die Kooperation unter den Staaten und die Rückführungspflicht funktionieren nicht. Osteuropäische Staaten sabotieren die EU-Flüchtlingspolitik unverhohlen. Offensichtlich kann Brüssel wenig bis nichts dagegen unternehmen. Kann es wirklich nicht, wo doch bei völlig unwesentlichen Vorschriften mit Nachdruck auf deren Einhaltung geachtet wird? Ein dritter, offensichtlich bitter notwendiger Reformschritt wird damit verpasst.
Populisten im Vormarsch
Bereits haben sich diese Heilsverkünder in Ungarn und Polen (mit legalen Mitteln) in die Regierung geputscht, die Aushebelung demokratischer Strukturen ist in vollem Gange. Völkerverbindende, friedensstiftende und Menschenwürde achtende Verhältnisse, an denen seit 1945 unermüdlich gearbeitet wurden, werden zertrümmert. Ist die betroffene Bevölkerung nur machtlos oder naiv? Oder mehrheitlich passiv, uninteressiert, unwissend? Oder hat sie gar den Glauben in die EU verloren, in die sie nach Jahrzehnten sowjetischer Knute alle Hoffnungen setzte? Denn zu offensichtlich blieben oligarchische und korrupte Strukturen erhalten, während der erhoffte persönliche Wohlstandsgewinn ausblieb. Man sagt, die Eliten hätten sich an den EU- Hilfsmilliarden bereichert, während sich die alte Perspektivlosigkeit der Massen im postsowietischen Raum wieder ausbreite.
Brüssel ist beunruhigt, die EU äussert Besorgnis. Doch das genügt bei weitem nicht. Die Aussetzung des Stimmrechts wegen „schwerwiegenden und anhaltenden Verletzungen“, angedroht durch die EU-Justizkommissarin, würde den Nationalisten geradezu in ihr Konzept passen. Der Zerfall einstiger EU-Errungenschaften ist so offensichtlich und bedrohlich, dass der diskret erhobene Zeigefinger nicht mehr ausreicht. Oder wird auch der überfällige vierte Reformschritt nicht gewagt, weil Konsequenzen befürchtet werden? Wie beim ausgebliebenen ersten, zweiten, dritten?Hochkonjunktur für den Nationalismus
Das Denken in nationalen Kategorien ist die grösste Gefahr für die EU, einst Antithese zum Nationalismus mit langen Wurzeln im 20. Jahrhundert. Der dies sagt: Joschka Fischer, ehemaliger deutscher Aussenminister und Vizekanzler.
„Die EU, welche doch Nationalismen überwinden sollte, wird zu einer Maschine, welche fast im Monatstakt neue gegenseitige Ressentiments produziert“, sagt Jan-Werner Müller, Professor für politische Theorie in Princeton in der NZZ. Er beobachtet in der EU eine Art Desintegration, da Regeln (ungestraft) gebrochen werden und Rechtsstaatlichkeit immer mehr in Gefahr gerät. Klare Worte findet er bei der Beurteilung des IST-Zustands: „alle paar Wochen an Gipfeltreffen streiten die Regierungschefs zu Themen wie Euro oder Flüchtlingen – mit der Folge, dass Europa plötzlich als eine Veranstaltung erscheint, in der Nationalstaat gegen Nationalstaat steht.“
Die Kritik, dass Regierungschefs und führende Politiker ihre jeweiligen nationalen Ansichten höher einstufen als die ursprünglich gemeinsam formulierten Ziele ist berechtigt und trifft keineswegs nur zwei, drei besonders harsch auftretende Damen und Herren. In allen europäischen Ländern, auch Nicht-EU-Mitgliedern, ist plumper, penetrant geschürter Nationalismus probates Mittel, um Wahlen und Macht zu gewinnen. Das erprobte Mittel zum Zweck: den nationalen Volkswillen über eine als lästig empfundene internationale Dachorganisation zu erheben.
Diesem Trend zu begegnen, in dem seinem Volk in Erinnerung gerufen wird, welche Auswirkungen er im letzten Jahrhundert in Europa hatte, wäre ein Gebot der Stunde und der fünfte Reformschritt.Stillstand, Reform oder Niedergang?
Damit nicht Skepsis über Frieden und Sicherheit in Europa überhandnimmt, sich eine eigentliche Sinnkrise um Stabilität, Wohlstand und Integration ausbreitet, damit dies alles nicht langsam, aber sicher ins Desaster führt, sind Reformen überlebensnotwendig. Es genügt nicht, empört zu sein!
Das Vorsichherschieben, statt Lösen der Finanz- und Schuldenkrisen steht am Anfang einer niederschmetternden Kaskade von Debakeln. Das „mit Besorgnis verfolgte“ Auseinanderbrechen oder Ignorieren gemeinschaftlicher Regeln verstärkt den europäischen Niedergang. Diese Führungsschwächen bergen ein eigentliches Katastrophenpotenzial. Führen heisst nicht verwalten. Mit Führen ist auch das Orten von Fehlentwicklungen und deren Korrekturen gemeint.Das Subsidiaritätsprinzip endlich anzuerkennen und damit die Rückverlagerung von Kompetenzen auf nationale Ebene zu erlauben, ist ebenso drängend, wie oft falsch verstanden. Dies würde nicht den oben beschriebenen Nationalismus, sondern die Bewegungsfreiheit der Nationen und damit die Identifikation mit der EU stärken. Somit ist die innere Reform der EU-Strukturen überfällig – doch, wer packt das an? Braucht es zuerst einen Generationenwechsel?Wolfang Schüssel, ehemaliger österreichischer Bundeskanzler, meinte kürzlich in Zürich: „Europa müsste alles weglassen was nicht nötig ist – was die Nationalstaaten überfordert“. Ist das Rezept zu einfach?Eine EU, ein Europa „der verschiedenen Geschwindigkeiten“ – eine alte, vernünftige Idee? Die Ungleichzeitigkeiten der Nationen sind so eklatant, dass sie nicht mehr länger ignoriert werden können. Die Bösen strafen, falsch! „Die Schnellen anspornen“, schreibt die ZEIT, wäre sinnvoller als Strafaktionen.Der Umbau der EU wäre eine heroische Tat. Tatenlos zuzuschauen („beobachten“), wie die Kräfte immer stärker und ihre Töne immer lauter werden, die die EU zerschlagen wollen, ist vergleichbar mit der Missachtung der Vorwarnung des Wetterdienstes vor dem heraufziehenden Hurrikan. Wenn der Respekt vor der ursprünglichen friedenssichernden Idee verblasst, werden die Schäden dereinst gewaltig sein.
Geschenkte Demokratie, geschenkten Frieden gibt es nicht. Beides will erkämpft sein.Weiterführend:
Robert Menasse: „DER EUROPÄISCHE LANDBOTE“, (2012)