In früheren Zeiten kontrollierten die Religionsväter die Menschen. Allmählich übernahmen die Staaten, resp. ihre politischen Vertreter und Institutionen, die Hoheit über Bürgerinnen und Bürger. (Wenigstens in den westlichen Demokratien; auch wenn heute da und dort gemunkelt wird, inzwischen diktiere die Wirtschafts- und Finanzelite die Politik des Alltags). Doch jetzt taucht eine neue Macht auf: In Zeiten des Epochalen Neubeginns, des aufkommenden Digitalen Zeitalters, wird alles anders. Die grosse Informations- und Technologie-Revolution führt dazu, dass die Karten neu gemischt werden. Geht mehr Macht gar an die Bürgerinnen und Bürger?
Im kürzlich erschienenen Buch: „The New Digital Age“, werden solche provokativen Fragen gestellt und spannende Antworten gegeben. Dass es sich hier nicht um gossip handelt, widerspiegelt – erstens – die ausführliche Besprechung des Buches im Economist (May 4th, 2013). Und zweitens: Die Autoren sind Schwergewichte ihrer Domäne. Eric Schmidt ist Executive Chairman von Google und Jared Cohen Direktor von Google Ideas. Sie sind somit natürlich nicht immer neutral, was nicht verschwiegen sein soll. Doch ihre professionellen Analysen der Gegenwart und gut begründeten Visionen der Zukunft sollten uns nicht kalt lassen. Ihr Insiderwissen befähigt sie, Chancen und Gefahren der kommenden Dekaden zu antizipieren. Inspirierend und pragmatisch zugleich, zeigen sie, wohin die Reise gehen könnte und welches die Konsequenzen für Menschen, Staaten und Wirtschaft sein werden.
Basis der spannenden Lektüre liefert die eindrückliche Recherchenarbeit der beiden Autoren. Mit der Schilderung des rasenden Tempos der Kommunikationsentwicklung beginnt ihr Tour d’horizon. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts explodierte die Zahl der im Internet verbundenen Menschen von 350 Millionen auf mehr als 2 Milliarden. Im gleichen Zeitraum stieg der Zahl der Smartphonenutzer von 750 Millionen auf weit über 5 Milliarden (aktuell: 6 Milliarden). Im Jahr 2025 wird somit die Mehrheit der Erdbevölkerung – innerhalb einer Generation – Zugang zu praktisch allen öffentlichen Informationen der Welt haben. Dannzumal werden die geschätzten 8 Milliarden Erdbewohner online sein. Aufgrund des „mooreschen Gesetzes“, verdoppelt sich zudem die Geschwindigkeit der integrierten Schaltkreise (chips) alle 18 Monate. Das heisst nichts anderes, als dass die Computer des Jahres 2025 64-mal schneller sein werden als unsere heutigen.
Das Internet ist das spannendste Experiment der Geschichte. Hunderte von Millionen Menschen erschaffen und konsumieren jede Minute digitale Inhalte in der neuen Welt ohne territoriale Grenzen und Gesetze. Damit ist das Internet der Welt grösster „unregierter“ Raum. Als Folge davon werden sich sehr viele Aspekte unseres Lebens verändern. Jahrhunderte alte Kommunikationsbarrieren verschwinden. Im Gegensatz zu früheren „Revolutionen“, wird dies die erste sein, die es praktisch allen Menschen erlauben wird, an Informationen und Wissen zu gelangen; dieses weiterzuentwickeln ohne auf „Zwischenhändler“ angewiesen zu sein. (Unserem rührigen Datenschützer in Bern muss es schwindlig werden).
Mit dem beispiellosen Vorrücken der globalen online-Welt werden viele herkömmlichen Gebilde und Hierarchien Gefahr laufen, obsolet oder irrelevant in der modernen Gesellschaft zu werden. Es sei denn, sie realisierten dies und adaptierten sich rechtzeitig. Gleichzeitig werden sich die alten Machtstrukturen von Staaten und Institutionen weg, hin zu Individuen verlagern. (Einen Vorgeschmack dessen erleben wir zurzeit mit den Volksaufständen im Mittelmeerraum). Autoritäre Regierungen werden es schwerer haben, ihre onlineinformierte Bevölkerung zu kontrollieren. Demokratisch regierte Staaten werden in Betracht ziehen müssen, dass viele neue Stimmen (neben den „alten“ politischen Parteien und Verbänden) mitreden werden. Die alten Machtzirkel zerfallen.
Natürlich werden die neuen Technologieplattformen von Google, Facebook, Amazon, Apple dazu führen, dass diese Konzerne immer mehr subtile Macht ausüben können. Umso wichtiger scheint, dass der technologische Wandel rechtzeitig einigen humanverbindlichen Richtlinien unterstellt wird. Schliesslich wird davon abhängen, wie weit die guten, aufbauenden Resultate gegenüber den schlechten, zerstörerischen Einflüssen Oberhand behalten werden.
In der Pipeline ist auch bereits der nächste Entwicklungsschritt. Verbesserte voice recognition (Spracherkennungssoftware) wird zur Sofort(v)erfassung von Emails, Notizen, Reden führen. Diese erneute Effizienzsteigerung (die meisten Menschen reden schneller, als sie schreiben – allerdings oft auch als sie denken) wird das Eintippen auf der Tastatur ablösen. Ins gleiche Kapitel gehören die stark verbesserten tools, die Sprachen sofort in gewünschte, andere übersetzen. Dies wiederum wird die Interaktivität in Firmen und Organisationen mit ihren Kunden, Partnern und Mitarbeitern revolutionieren.
Und natürlich: Das Bildungswesen wird erneut durchgeschüttelt. Individuelle Lehrprogramme, die sich selbst anpassen an die Lernfähigkeit einzelner Kinder (statt des Lehrers Lehrfähigkeit) werden Tatsache.
Was das Autofahren betrifft, tut sich bekanntlich einiges. Einen Vorgeschmack dessen, wie es dereinst auf unseren Strassen zugehen wird, gibt Google’s Flotte von driverless cars, die von einem Team in Zusammenarbeit mit Stanford University Ingenieuren entwickelt wurde. Diese führerlosen Pilotautos haben bereits Hunderttausende von Kilometern auf Strassen und Autobahnen ohne Zwischenfälle absolviert.
Die Autoren sind keinesfalls blinde Verfechter ihrer Theorien. Ausdrücklich verweisen sie in den einzelnen Kapiteln (Zukunft für Gesellschaft, Staat, Revolution, Terrorismus, Konflikt und Krieg) auf neue Gefahren, die mit der Entwicklung einhergehen. Ihre Zuversicht für die Chancenseite der Medaille (Rückseite: Gefahren) ist intakt. Im neuen Transparenzgebot weltweit sehen sie alte, gesellschaftliche Forderungen erfüllt. (Das schweizerische Bankgeheimnis lässt grüssen). In der „Brave new World“ werden bereits heute innert zweier Tage mehr digitale Aussagen (digital contents) gemacht, als seit Beginn der Menschheitsgeschichte bis anfangs des 21. Jahrhunderts. Ob dieser quantitative Informationstsunami die Welt vorwärts bringe? Ich hoffe, zumindest in Ansätzen.
Abschliessend, sozusagen als Verdauungshilfe, hier die Schilderung eines durchschnittlichen Morgens zuhause: „Statt des Weckers wird dich das feine Aroma des automatisch, frischgebrühten Kaffees sanft aufwecken. Während die Rollläden hochgehen, wird dir das High-tech Bett noch eine subtile Rückenmassage applizieren. Du wirst erfrischt ans Tageswerk gehen, da ein in der Matratze eingebauter Sensor in Übereinstimmung mit den REM-Phasen deinen Schlafrhythmus reguliert hat. Per Handklick oder verbaler Aufforderung werden Temperatur, Feuchtigkeit, Licht und Hintergrundmusik gesteuert…“
Wie der Tag weitergehen wird, lesen Sie am besten selbst. Denn in dieser Kolumne kann ja nur rudimentär und selektiv berichtet werden. Sicher wird auch bald eine deutsche Übersetzung des Buches vorliegen.