Wer’s glaubt!
Leserinnen und Leser der glaskugel-gesellschaft.ch konnten die Politik der Zentralbanken verstehen oder nicht – für einmal erlaube ich mir, Auszüge aus acht Jahren kritischer Kommentare auf dieser Plattform in Erinnerung zu rufen. Es sind kurze Zitate aus Beiträgen, die Sie auch heute noch nachlesen können.
«Dicke Bertha» der EZB – 14. Februar 2014
(…) Mario Draghi, Präsident der EZB, bezeichnete Ende 2011 «seine» Geldspritzen für notleidende Banken als «Dicke Bertha», in Anlehnung an die besonders grosskalibrigen Geschütze im Ersten Weltkrieg. Jene Dreijahreskredite in der Höhe von 1000 Milliarden Euro sollten vor allem die Liquidität italienischer, spanischer und portugiesischer Banken sicherstellen – auch die Banken anderer EU-Länder griffen ungeniert und dankend zu. Damit mutierte die Krise von einer akuten zu einer chronischen. Ende 2014 werden die drei Jahre vorbei sein und schon pfeifen es die Spatzen von den Dächern: Italien und Spanien sind klar im Rückstand mit ihren Rückzahlungen. Doch bereits wedelt Draghi mit neuen LTRO (Long Term Refinancing Operations).
Alternativlos? – 3. September 2016
(…) Doch seit mit den Jahren und ausbleibenden Erfolgserlebnissen die US-Notenbank und die EZB (Europäische Zentralbank) die Leitzinsen senkten und senkten, um den gewünschten Effekt mit der Brechstange zu erzwingen, bestätigt sich Watzlawicks Warnung: Mehr desselben ist fast immer das falsche Rezept.
Signor Draghi: Bitte umdenken! – 17. Juni 2017
(…) Längst überwiegen die negativen Folgen der sturen Tiefzinspolitik der EZB. (…) Wenn die EZB heute Banken Staatsanleihen und Wertpapiere abkauft, um die Wirtschaft zu reparieren, damit sie das erhaltene Geld zu niedrigen Zinsen verleihen, tönt das ja auf den ersten Blick plausibel. Doch wenn sich die Banken nicht an diese Theorie halten, was dann?
Zu viel des Guten – 4. Dezember 2017
(…) Wenn der Volksmund meint: «Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende», so liegt er nicht ganz falsch. Bereits mehren sich die Warnrufe kompetenter Insider, dass die Leitzinsen der Zentralbanken längst angehoben, die Flutung der Märkte durch das Geld aus den Druckmaschinen gestoppt werden müssten. Es ist zu offensichtlich, dass heute nicht nur die Nebenwirkungen der «Unter-Null-Zinspolitik», sondern auch der Liquiditäts-Ozean falsche Anreize zuhauf produzieren.
Nach uns die Sintflut! – 30. Oktober 2018
(…) Der Unmut steigt ob der ultralockeren Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB). Die Argumente der Kritiker sind die besseren als jene Draghis. Während die US-Notenbank Federal Reserve im September 2018 den Leitzins zum vierten Mal nacheinander erhöht hat (um 25 Basispunkte auf 2 bis 2,25 Prozent) und damit ihren Willen zur konstanten Normalisierung der Geldpolitik in den USA unterstreicht, herrscht bei der Europäischen Zentralbank Funkstille in dieser Beziehung. Der Schaden, den Mario Draghi und sein Leitungsgremium mit dieser sturen, keineswegs neutralen Haltung anrichten, wird immer grösser.
Negativzinsen als Resultat eines kaputten Systems – 10. Mai 2020
(…) Nicht zum ersten Mal ist die Kritik eines Nicht-Finanz-Spezialisten am Verhalten der Notenbanken in den USA, in Europa und der Schweiz aktuelles Thema in einer konfusen Welt. Auch Finanzmarkt-Profis sagen inzwischen: «The world has gone mad and the system is broken», so Ray Dalio in der NZZ. (Die Welt sei verrückt geworden und das System sei kaputt).
Die grosse Ratlosigkeit – 7. März 2022
(…) Vorrangiges Ziel der Notenbanken ist es, die Preisstabilität innerhalb ihres Wirkungsraums zu gewährleisten. Doch es war absehbar: Weltweit steigt die Inflation rasant. Hat da jemand gesagt: «Dies war nicht voraussehbar?»
Jetzt haben wir die Bescherung – 11. Juni 2022
(…) Mit der Preisstabilität ist es vorbei. Das Gespenst der Inflation ist da. Wir sind alle davon betroffen. Die Rolle der Nationalbank ist umstritten. Vor drei Monaten schrieb ich an dieser Stelle über die Rolle der Notenbanken, insbesondere der Schweizerischen Nationalbank (SNB). Diese muss «sich gemäss Verfassung und Gesetz vom Gesamtinteresse des Landes leiten lassen, als vorrangiges Ziel die Preisstabilität gewährleisten und dabei die Konjunktur berücksichtigen».
Jetzt ist man klüger
Im September 2022 lasen wir in den Medien: «Die Europäische Zentralbank (EZB) hat sich in eine unmögliche Position manövriert … Aber jetzt fangen die Probleme erst an» (Sonntagszeitung). «… Nachdem der US-Notenbankchef die Entwicklung der Inflation seit ihrem Anziehen ab dem vergangenen Sommer zunächst massiv unterschätzt hatte …» (NZZ). «Die US-Notenbank hat die Zinsen zu spät erhöht. Dieser Fehler schadet der ganzen Welt» (Zeit).
Klaus Wellershoff, ein Profi, der auch Nationalökonomie an der Universität St. Gallen unterrichtet, sah die kritische Entwicklung im Juli 2022 in einem Interview so: «Die Nationalbank (SNB) hinkt der Marktentwicklung hinterher. (…) Die SNB, die ihre Bilanz mit ausländischen Anlagen vollgestopft hat, hat sich dabei allerdings selbst ausgebremst.» Er meinte damit, dass deren Devisenmarktinterventionen (ca. 1000 Milliarden Franken) bei der Rückzahlung auch «sicherer» Staatsanleihen durch den Wertzerfall des Euro weniger wert seien, was enorme Verluste bringe. «Es ist ein Albtraum, der da entstanden ist» (Tages-Anzeiger).
Was lange währt, wird …
Im Oktober 2022 erhielt Ben Bernanke – amerikanischer Ökonom und von 2006 bis 2014 Chef der amerikanischen Notenbank – zusammen mit zwei weiteren Amerikanern den Wirtschafts-Nobelpreis. Aufgrund von Analysen der weltweiten Depression der 1930-Jahre hatte Bernanke damals daraus die Lehre gezogen, wie man Finanzkrisen beruhigt: mit seiner unkonventionellen Geldpolitik, kurz mit sehr viel Geld, der nach 2008 einsetzenden Geldschwemme.
Dass Bernanke ausgerechnet 2022 diese hohe Auszeichnung erhält, ist zumindest eigenartig. Wovor Kritiker seit 2008 gewarnt haben, ist 14 Jahre später erdrückende Tatsache: Die ausser Kontrolle geratene Inflation ist da. Die Hauptaufgabe der Notenbanken – die Preisstabilität zu sichern – bleibt kläglich unerfüllt. Die zum Dogma erklärte Finanzierung der Staaten durch die Notenbanken hat sich kurzfristig gelohnt – langfristig sind die Folgen unabsehbar und ein drohendes Desaster.
Jetzt haben wir die Quittung dafür, dass die Zentralbanken meinten, sich als marktmachende Akteure betätigen und Politik machen zu müssen – anstelle ihrer eigentlichen Aufgabe, für Preisstabilität zu sorgen.
Was heisst das alles für die Schweiz?
Anfangs November 2022 schätzen Medien den Jahresverlust der SNB auf 142 Milliarden Franken, dies aufgrund der Kursverluste auf Devisenanlagen, Aktien und Obligationen im Besitz der SNB. Die Kantone werden wohl oder übel auf die gerngesehenen Millionen-Ausschüttungen der SNB verzichten müssen. Und: der Schweizerfranken hat sich in letzter Zeit stark aufgewertet – ohne die negativen Folgen, vor denen die SNB jahrelang gewarnt hatte. Immerhin ist die Teuerung in der Schweiz dank des starken Frankens geringer als in Europa.
Der Kurs der SNB-Aktie ist innerhalb von sechs Monaten von rund 7500 auf rund 4500 CHF gesunken. Das Eigenkapital reduzierte sich seit Januar 2022 von 204 auf 56 Milliarden (Stand 1.11.2022).
Schweizerische Nationalbank: Quo vadis?
Mangelnde Transparenz hat die SNB noch immer ausgezeichnet. Geheimnisumwittert – und damit unzeitgemäss – können wenige Personen, ohne zur Rechenschaft gezogen werden zu können, Entscheide fällen, mit grossen Konsequenzen für das ganze Land. Gemäss dem Transparenzindex von Zentralbanken wird Schweden mit dem Maximum von 15 Punkten bewertet, die Schweiz landet weit hinten auf Platz 18.
Im Oktober 2022 haben Ökonomen diesen Zustand vehement kritisiert: «Uns ist keine andere Zentralbank bekannt, deren oberste Führungsebene so stark von Insidern geprägt ist», sagte Yvan Lengwiler, Wirtschaftsprofessor an der Uni Basel (Tages-Anzeiger).
Und jetzt? Die Politik ist gefordert.