«Nachhaltigkeit» als PR-Gummibegriff
Plötzlich erzählt uns die Werbung für Banken, Versicherungen, Detailhändler, ja gar für Baukonzerne und Treibstofftankstellen, wie nachhaltig ihr Wirken sei. Auch Rohstoffhändler laden ihre Nachhaltigkeitskonzepte vor grünem Hintergrund auf ihre Homepage. Über Nacht investieren Vermögensverwalter in nachhaltige Unternehmen. Hersteller von Tabakprodukten vermelden in grüner Schrift: Wir sind stetig darum bemüht, unsere Produktionsprozesse noch nachhaltiger zu gestalten.
Nachhaltigkeit, ein Modewort – viel gebraucht, falsch gebraucht und missbraucht. Als man früher unter diesem Wort «langanhaltend» verstand, war die Welt noch in Ordnung. Doch dann kam aus dem Angelsächsischen der Begriff sustainable. Gemeint war, dass bei der Ressourcennutzung nur durch die Bewahrung der natürlichen Regenerationsfähigkeit beteiligter Systeme eine dauerhafte Bedürfnisbefriedigung zu erreichen sei. Etwas bildhafter: Im Wald darf nicht mehr Holz geschlagen werden, als jeweils nachwachsen kann.
Dass sustainable mit «nachhaltig» übersetzt wurde, ist ein unverzeihbarer Fehler. Damit wurde tatsächlich ein nachhaltiges (altsprachlich verstanden) Problem geschaffen …
Handeln wir enkelgerecht?
Der Weg in eine enkelgerechte Zukunft heisst, dass wir heute im Sinne der Generationengerechtigkeit handeln, uns in unserer Welt so nachhaltig verhalten sollen, dass unsere Wirtschaft die Chancen der nachfolgenden Generationen nicht mindert. Wir wissen alle, dass dem auch zu Beginn des Jahrs 2021 nicht so ist.
Zu unserer Entschuldigung kann akzeptiert werden, dass viele jener Gewohnheiten, die sich als nicht nachhaltig entpuppt haben, anfänglich – vor rund 75 Jahren – nicht als solche erkannt worden sind. Jedenfalls war ich persönlich vor 60 Jahren stolz und aufgeregt, als ich erstmals ein Flugzeug bestieg, um nach San Francisco zu fliegen. Auch zwei Jahre später, als ich den ersten VW-Käfer kaufte, dachte ich mit keiner Faser daran, dass ich damit die Luftverschmutzung und die Klimaerwärmung fördern könnte. Der rapide ökonomische und soziale Wandel seit jener Zeit hat allerdings Probleme geschaffen – wir kennen sie. Das forcierte Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg brachte neben Wohlstand als negative Begleiterscheinung massive Umweltzerstörungen mit sich.
Um das Bild noch etwas auszumalen: Subsistenzorientierte, traditionelle Wirtschaftsformen, die noch weitgehend unverändert waren – das Jagen und Sammeln unserer Vorfahren als Beispiel –, bildeten stabile und dauerhafte, eben nachhaltige Wirtschaftssysteme, die automatisch mit den natürlichen Ökosystemen vernetzt waren.
Dies alles wissen wir, es soll keine Entschuldigung dafür sein, dass wir im 21. Jahrhundert nicht darüber nachdenken, was wir im persönlichen Verhalten ändern können, um unseren Enkeln gerecht zu werden.
Zusammenfassend: Ganzheitlich verstanden geht es darum, so zu leben, dass wir die Wirtschaft, verantwortlich für unseren Wohlstand, und die Gesellschaft, also unser aller Gemeinwohl, mit der Umwelt, den natürlichen Lebensgrundlagen, in eine verantwortbare Balance bringen.
Das Dossier Nachhaltigkeit wird immer dicker
Alles begann mit der UN-Umweltschutzkonferenz 1972 in Stockholm. Seit die von der UNO gestartete Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, genannt Brundtland-Kommission, 1983 ihre Arbeit aufgenommen hat, sind immer neue Aspekte Gegenstand der Kritik am aktuellen Lebensstil geworden.
Auch hier ein Beispiel: Unsere Bauwirtschaft ist nicht nachhaltig. Beton und Zement schneiden aus ökologischer Sicht nicht gut ab. Vor allem die Herstellung von Zement (Zerkleinerung der Rohstoffe und Verarbeitung im Ofen) benötigt enorm viel Energie und verursacht hohe CO2-Emissionen. Vier bis sieben Prozent des globalen CO2-Ausstosses gehen auf das Konto Zement. Wussten Sie das?
Wie das denn früher war, fragen Sie sich? Viele antike Gebäude wurden ohne Kenntnis von Zement oder Beton gebaut. Während Jahrhunderten wenn nicht Jahrtausenden entstanden Mauern aus Natursteinen, die ohne Verwendung von Bindemitteln sorgfältig und millimetergenau zugehauen worden waren. Pyramiden und römische Aquädukte widerstehen bis heute Naturkatastrophen und Erosionen. Der Zeitaufwand für diese Konstruktionsweise muss enorm gewesen sein. Heute haben wir dafür keine Zeit mehr.
Im Jahr 2021 betonen unterschiedlichste Themen früher verdrängte oder unbekannte Nachhaltigkeitsaspekte in unserem täglichen Leben.
Bedrohliche Klimaerwärmung, umweltschädigende fossile Energie (auch
Atomkraft), CO2-Schleuder Landwirtschaft, «selbstverständlicher» Mobilitätswahn, sinkende Biodiversität, problematische Ernährungsgewohnheiten (Food-Waste), neoliberale Ökonomie, Investitionssünden – dies sind alles Beispiele aus einer endlos langen Liste.
Da denken wir – um dem entgegenzuwirken – etwa an Klimajugend, alternative, erneuerbare Energie, innovative Landwirtschaft, Mobilität dank Mobility (mieten statt besitzen), Verbot von Unkrautvertilgern, fleischlose Nahrung, «Sharing Economy», Kreislaufwirtschaft, nachhaltige Investitionsregeln.
Der verräterische Footprint (Fussabdruck)
Wenn uns das Thema Nachhaltigkeit interessiert, möchten wir wissen, wie unser Verhalten diesbezüglich gemessen werden kann –, um es, bei schlechter Benotung, zu verbessern. Dafür hat sich weltweit das internationale Konzept des Ecological Footprint etabliert. Wer hat’s erfunden? Der Schweizer Mathis Wackernagel (www.footprintnetwork.org/our-work/ecological-footprint/). Mit Hilfe dieser technischen Grösse, die den Verbrauch respektive die Ressourcen einzelner Länder bewertet, können Länder Nachhaltigkeit und Wohlbefinden verbessern, Führungskräfte ihre Projektinvestitionen optimieren und Einzelpersonen besser verstehen, wie sich ihr persönliches Verhalten auswirkt.
Eine weitere Möglichkeit, seinen persönlichen Lebensstil annähernd zu messen, ist z.B. der Footprint-Rechner des WWF (www.wwf.ch/de/nachhaltig-leben/footprintrechner).
Die Kreislaufwirtschaft hat Zukunft
Wenn Sie sich jetzt überlegen, wie Sie sich noch nachhaltiger als bisher verhalten können – warum beginnen wir nicht bei der Kreislaufwirtschaft? Statt des überholten Klischees «Kaufen – Nutzen – Wegwerfen» steht jetzt die Idee im Vordergrund, Produkte so zu entwickeln, dass kein Teil davon zu unbrauchbarem Abfall wird. Alles bleibt in einem durchgängigen Kreislauf. Abfall wird künftig zu einer der wichtigsten Rohstoffquellen überhaupt.
Erfolgreiche kleine und grosse etablierte Firmen und Start-ups haben Sinn und Marktchancen erkannt. Laufend starten sie mit äusserst innovativen Ideen durch. Das Verfahren Cradle-to-Cradle (C2C) wurde vom US-amerikanischen Architekten William McDonough und dem deutschen Chemiker Michael Braungart ausgearbeitet, die dahinterstehende Idee ist so frappant wie einfach: Die Herausforderungen unserer Zeit als Chance verstehen – wer weniger Ressourcen verbraucht, verdient mehr.
Hier ein bunter Strauss solcher Lösungen:
– Trigema produziert ein giftfreies, voll kompostierbares T-Shirt.
– Daisy – der Roboter von Apple – zerlegt in einer Stunde 200 gebrauchte iPhones und verwertet so 48'000 Tonnen Elektroschrott.
– BioMason, ein US-Start-up, baut den klimafreundlichen Ziegel von Bakterien aus Sand – das Einsparungspotenzial ist riesig, ganze 800 Mio. Tonnen CO2 gehen auf das Konto der weltweiten Ziegelproduktion.
– Black Bear Carbon ist ein holländischer Technologiepionier im Upcycling von alten Autoreifen. Würden alle Altreifen so verwertet, wäre die Ölverbrauchs- Einsparung 215 Mio. Barrel/Jahr.
– Das Münchner Start-up 3F Studio hat die Fassade für das Deutsche Museum mit recycelbarem Material aus dem 3D-Drucker entwickelt.
Die Liste ist ellenlang und wächst täglich. Leser*innen müssen ja nicht gleich ein eigenes Start-up-Abenteuer gründen. Indem Sie aber darauf achten, beim persönlichen Einkauf solche Produktideen zu berücksichtigen, sorgen Sie für steigende Umsätze bei diesen Pionierfirmen.
Das Magazin «Familienleben» schrieb kürzlich: «Eine Solaranlage auf dem Dach, ein Elektromobil auf dem Vorplatz, die Wärmepumpe im Garten – eine umweltfreundliche Lebensweise ist nichts Besonderes.»
Mehr Infos z.B. auf www.oebu.ch / www.make-furniture-circular.ch / www.circular-economy-switzerland.ch / reffnet.ch / ellenmacarthurfoundation.org
Landwirtschaft: Weiter wie bisher ist keine Option
«Wir wollen eine Landwirtschaft und ein Ernährungssystem, die ökologisch tragbar und langfristig nachhaltig sind», meinte eine Teilnehmerin im November 2020 am «forum KURSWECHSEL», organisiert von Biovision, der Stiftung für ökologische Entwicklung (biovision.ch).
Absichtlich erwähne ich das Thema Landwirtschaft aus dem weiter oben aufgeführten Katalog der Möglichkeiten, unser Land nachhaltiger in die Zukunft zu lenken. Tatsächlich sind die negativen Schlagzeilen – Grundwasservergiftung, zu hohe Trinkwasserbelastung, kürzlich verbotene Pflanzenschutzmittel, die jahrelang toleriert worden waren, propagierter Selbstversorgungsgrad (dank importierter Futtermittel!) – ein starkes Indiz, dass viele im Land bezüglich persönlicher Ernährung und deren Herkunft umdenken (TV-Spot: «Natürlich aus der Schweiz!»).
Wenn wir realisieren, dass die industrielle Landwirtschaft massgeblich mitverantwortlich ist am Artensterben, dem Verlust an fruchtbaren Böden und indirekt am Klimawandel (forcierte Viehwirtschaft auf Basis importierter Futtermittel), aber auch an ernährungsbedingten Gesundheitsproblemen und damit an unseren Ernährungssystemen, dann wird die Wichtigkeit dieser Faktoren evident.
Eine diversifizierte ökologische Produktion (IP-Suisse ist nicht nachhaltig!), und Bio-Landwirtschaft haben ein grosses Potenzial, nicht nur für die Käufer*innen, sondern auch für das bäuerliche Einkommen. Meine Kritik zielt auf den Präsidenten des Bauernverbandes und jene rückwärts orientierten Politiker in Bern, die den dringenden Handlungsbedarf partout nicht wahrhaben wollen. Viele Landwirte sind dagegen schon heute nachhaltig unterwegs – auch wenn sie noch in der Minderheit sind. Die Kritik geht auch an die Grossverteiler, die unverständlicherweise für Bioprodukte eine überrissene Marge kalkulieren.
Nachhaltige Anlageregeln beeinflussen Klima
Aus dem oben erwähnten Dossier Nachhaltigkeit sei auch kurz auf folgendes brandaktuelle Thema eingegangen: Wer damit einverstanden ist, dass es eine unserer Hauptaufgaben ist, den Klimawandel – soweit es in unserer Macht liegt – zu bekämpfen, der oder die kann mit dem eigenen Geld indirekt sehr viel bewegen.
Sein Geld nachhaltig anzulegen ist nicht einfach, für zu viele Finanzinstitute ist es gar unbequemes Neuland. Zudem bestreiten nach wie vor viele Pensionskassen, die Schweizerische Nationalbank oder Grossbanken schlicht und einfach die Relevanz der Nachhaltigkeit für ihren Auftrag: Sie sollen das Geld profitabel anlegen, damit basta. Diese unzeitgemässe Haltung ist gefährlich: Je mehr jene Konzerne in den Fokus geraten, deren Tätigkeit als nicht nachhaltig erkannt wird, desto mehr werden ihre Aktien schwächeln. Umgekehrt gedacht: Die Zukunftsbeweger unter den am Aktienmarkt gehandelten Pionierfirmen, die Teil der Lösung sind, werden langfristig eine bessere Performance aufweisen. Dagegen werden sich Rohstoffhändler, Hersteller fossiler Brennstoffe, Produzenten der Tabakindustrie, Zementhersteller – als Beispiele – aus Klima- und Nachhaltigkeitsoptik nicht mehr qualifizieren.
Wer also mit seinem Geld nachhaltig umgehen möchte, der hat es nicht einfach. Wer entscheidet für ihn oder sie, welche Unternehmen sich dafür qualifizieren oder welche aus dem Raster fallen?
Verschiedene Produkte erleichtern das Geldanlegen auf nachhaltige Art. Environment Social Governance (ESG) – also Umwelt, Soziales und Unternehmensführung – werden zunehmend zum Standard.
Neben dem weiter oben erwähnten Footprint gibt es seit kurzem ein neues Tool, das den Entscheid erleichtern soll: Globalance World (globalanceworld.com) – das Google Earth, die digitale, interaktive Weltkugel für zukunftsorientierte Anleger*innen. Auch andere Organisationen können hilfreich sein: so z.B. B Lab (blab-switzerland.ch), das eine globale Bewegung von Menschen unterstützt, die ihren Unternehmergeist nutzen, um Positives zu bewirken.
Ist die Politik gefordert?
Der Klimaverträglichkeitstest des Bundes beweist es schwarz auf weiss, dass der Schweizer Finanzplatz viermal mehr Mittel in Firmen investiert, die Strom aus fossilen Quellen erzeugen, als in Produzenten von erneuerbarem Strom. Man kann sich fragen, ob es Aufgabe der Politik sei, hier einzugreifen und Massnahmen zu treffen, um die Finanzflüsse über den Schweizer Finanzplatz auf das Ziel der Nachhaltigkeit auszurichten. In diesem Fall jenes, die weltweiten Emissionen von Treibhausgasen bis spätestens 2050 auf null zu begrenzen. Nicht auszuschliessen ist, dass sich Bundes-, National- und Ständerat mit einer entsprechenden Volksinitiative zu befassen haben werden.
Damit wären wir wieder beim aktuellen Thema der Flut von Initiativen, die zwar beklagt wird, aber letztlich auch ein Zeichen davon ist, dass weite Kreise der Bevölkerung mit gewissen Trends in der Wirtschaft nicht mehr einverstanden sind. Ziemlich kontraproduktiv erscheint da die Äusserung des Präsidenten von Economiesuisse, die er in einem Zeitungsinterview im November 2020 zum Besten gab: «Ich halte die Schweiz für sehr fortschrittlich, was die ökologische und soziale Nachhaltigkeit angeht.»
Unser Wald – da hat der Begriff Nachhaltigkeit seinen Ursprung
«Es darf im Wald nicht mehr Holz geschlagen werden, als jeweils nachwachsen kann.» Mit dieser einfachen Regel begann dieser Beitrag. Heute geht es aber um mehr. Wie Peter Wohlleben, der bekannte Wald-Spezialist, versichert, muss das Ziel der Forstwirtschaft sein, die heutigen Wälder in naturnahe Wälder zurückzuverwandeln.
Auch wenn Wohlleben von Deutschland spricht, könnten seine Ideen ebenso in der Schweiz gründen. Seine Bücher wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt, sein Bestseller «Das geheime Leben der Bäume» verkaufte sich mehr als eine Million Mal.
Der Förster plädiert für eine radikale Abkehr von der traditionellen Forstwirtschaft. In Zeiten der Klimaerwärmung stehen Buchen und Eichen unter Stress. Auch Fichten und Kiefern sind bedroht. Vehement kritisiert er den verfehlten Nadelholzanbau und die sogenannte Schadholzräumung, insbesondere aber auch die Art und Weise, wie heute gewirtschaftet wird. «Am besten helfen wir dem Wald, indem wir ihn in Ruhe lassen.»
«Unter Schutz stellen wäre der Idealfall. Wo das nicht geht, sollte schonend bewirtschaftet werden. Hier sollten einheimische Baumarten wachsen. Kahlschläge dürfte es nicht geben», rät Wohlleben.
Enkelgerecht
Naturnahe Wälder. Nachhaltiges Wirtschaften. Giftfreie Landwirtschaft. Natürliche Regenerationsfähigkeit der Systeme. Klimaschonend investieren. Enkelgerecht handeln. Gibt es da einen Zusammenhang?