Während die US-Notenbank Federal Reserve im September 2018 den Leitzins zum vierten Mal nacheinander erhöht hat (um 25 Basispunkte auf 2 bis 2,25 Prozente) und damit ihren Willen zur konstanten Normalisierung der Geldpolitik in den USA unterstreicht, herrscht bei der Europäischen Zentralbank Funkstille in dieser Beziehung. Der Schaden, den Mario Draghi und sein Leitungsgremium mit dieser sturen, keineswegs neutralen Haltung einnehmen, wird immer grösser.
Herbeigeredete Argumente, verfehlte Ziele
Die Bilanz der EZB der letzten Jahre ist sehr eingetrübt. Während die Senkung des Leitzinses auf null Prozent vor drei Jahren unerwünschte, ja gefährliche Wirkung zeigt und trotzdem stur beibehalten wird, kündigte der Italiener Draghi Mitte 2018 den Ausstieg aus seinem seit Jahren inszenierten Wertpapierkaufsprogramm (zurzeit 30 Milliarden Euro monatlich!) an. Wiederum ist die Begründung dafür ein Ablenkungsmanöver. Hiess es einst, diese Massnahme trage dazu bei, die Inflation auf zwei Prozent anzuheben (was nicht der Fall war), steht für viele der Verdacht im Vordergrund, dass mit dem anhaltenden und massiven Aufkauf von Staatsanleihen etwas ganz anderes bezweckt wird. Denn profitieren davon können in erster Linie hochverschuldete (marode) Staaten wie Griechenland, Portugal und … Italien. Böse Zungen behaupten, die EZB finanziere die haarsträubende Finanzpolitik und die masslosen Schuldenprogramme der italienischen Populisten.
Dass Draghi zudem nicht müde wird, zu behaupten, dass alle Bürger und Sparer vom geldpolitisch induzierten Aufschwung viel mehr profitierten als sie vom Ärgernis Nullzinsen auf ihren Bankguthaben geschädigt würden, reiht sich in eine lange Reihe irrelevanter Argumente des EZB-Präsidenten, der seit Jahren einer geldpolitischen Fiktion nachlebt, wie im Sommer 2018 Mathias Binswanger, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz, in der NZZ kritisierte.
Zwar führte die Senkung des Leitzinses auf null Prozent tatsächlich zu höheren Kreditvergaben der Banken – aber am falschen Ort. Die Unternehmen beanspruchten diese nicht für zusätzliche Investitionen in ihr Business, sondern die Banken kurbelten damit ihr Hypothekargeschäft an, was einfacher und profitabler ist. Also steigerten sie die Werbeanstrengungen, das Hypo-Geschäft boomt und damit stiegen - und steigen noch - die Immoblilienverkäufe und -preise gewaltig. Die superexpansive – für viele längst unverständliche – Geldpolitik der EZB ist eine Zeitbombe – wenigstens aus der Sicht des Schreibenden.
Die nächste Rezession, die nächste Finanzkrise
Das billige Geld verführt Regierungen dazu, Schulden anzuhäufen – die Zinsen, die dafür bezahlt werden müssen, sind „quantité négligeable“. In diesen Zeiten müssten Staaten eigentlich Überschüsse erzielen (was die Schweiz tatsächlich macht) und längst immer wieder aufgeschobene Strukturreformen anpacken (was die Schweiz nicht macht). Doch die nächste Rezession kommt bestimmt und damit werden die Steuereinnahmen wieder sinken und gleichzeitig die Sozialausgaben steigen. Wie dannzumal die Regierungen ihre steigenden Budgetdefizite auffangen wollen, wie sie ihre inzwischen munter weiter gestiegenen Schuldenberge verzinsen wollen – sie wissen es wohl selbst nicht. Gerade die neue Regierung Italiens demonstriert tagtäglich ihre krasse Unwissenheit über finanzielle Zusammenhänge. Dass es wieder zu einer Euro-Krise kommen wird ist unbestritten – wenigstens von jenen Leuten, die längerfristig denken als populistische Schaumschläger.
Aus Erfahrung wissen wir zudem, dass Finanzkrisen ohne Vorwarnung auszubrechen pflegen. Zumindest wurden diese nicht wahrgenommen. So erfreuten sich die Firmen - letztmals 2007 - noch der Hochkonjunktur, voller Auftragsbücher und eines Börsenhochs, als es plötzlich abwärts ging mit allen dreien. Und wir kennen auch die Folgen: Liegenschaften- und Anleihenmärkte geraten subito in Schwierigkeiten – schon sind neben Banken auch weite Kreise der Bevölkerung dramatisch betroffen. Die heute zu beobachtende Flucht privater und institutioneller Anleger in den Liegenschaftenmarkt, wo immer noch einigermassen vernünftige Renditen verlocken, diese Flucht in den Betonboom, wird dannzumal ein abruptes Ende finden. Verantwortliche Entscheidungsträger in der Wirtschaft und jene im Beraterstatus bei den Banken werden – einmal mehr - beteuern „niemand konnte das voraussehen!“
Hans-Werner Sinn, der bekannte Ökonom und Wirtschaftsforscher, hält nicht zurück mit seiner Meinung. Grösser denn je beurteilt er die Gefahr einer Pleite der Euro-Zone.
Die ungemütliche Kettenreaktion
Gunther Schnabl, Professor am Institut für Wirtschaftspolitik in Leipzig, einst Berater der EZB, ist inzwischen einer der bestqualifizierten Kritiker derselben geworden. Er wirft Draghi vor, noch immer „weiter Gas zu geben“, obwohl die Spitze des Booms längst sichtbar sei und er mit dieser Haltung den Boom noch antreibe. Das immer wieder geäusserte Argument des Inflationsziels (siehe weiter oben) bezeichnet er als „Feigenblatt für eine versteckte Staatsfinanzierung durch die Zentralbank“ (NZZ). Der kleine Sparer hat die Zeche zu bezahlen, während jene, die über Aktien- und Immobilienvermögen verfügen profitieren können von dieser Situation.
Eine unliebsame Folge dieser Verwerfungen ist – bei stagnierenden oder gar sinkenden Löhnen – dass sie den Nährboden bilden für steigende Unzufriedenheit im Volk. Sobald hier realisiert wird, dass die ultralockere Geldpolitik negative Verteilungseffekte zur Folge hat, wird der eigentliche weltweite Sprengstoff hinter den beschwichtigenden Tagesgesprächen der Politiker sichtbar: „das Volk“ wendet sich den Heilsverkündern am rechten Rand des politischen Spektrums zu. Populistische Figuren, Erlösung von etablierten Kräften und Parteien versprechend, haben Hochkonjunktur mit allen voraussehbaren Konsequenzen ihrer unehrlichen Politik. Wie Erfahrung zeigt, wird es ein abruptes Aufwachen aus dem ach so schönen Träumen geben.