Was bisher geschah
Früher umgaben sich Obrigkeiten mit einer undurchsichtigen Aura der Geheimhaltung. Die herrschenden Kaiser, Könige, Fürsten und Päpste betrachteten dies als eine Selbstverständlichkeit, als Standesprivileg.
Mit dem Aufkommen des industriellen Buchdrucks im 15. Jahrhundert geriet dieses zeitprägende, kolossale Privileg ins Wanken. Plötzlich liessen sich Forderungen, Standpunkte, Kritik massenhaft ins Volk tragen und Missstände anprangern. Männer und Frauen lernten – zum Ärger jener Obrigen – rasch lesen und verstehen. Diese Epoche erhielt anschliessend den Namen «Renaissance».
600 Jahre später erfolgt in der Gegenwart der nächste Quantensprung: Mit der spektakulären Gleichzeitigkeit, der Denkdelegation an Algorithmen und der Überwindung der Distanzen revolutioniert die Datenwelt der Supercomputer das Zeitalter.
Damit wird die Welt transparenter.
Whistleblower und Datenleaks sind die Voraussetzungen, damit bisher Verborgenes ans Tageslicht gezerrt wird. Zum Schrecken all jener, die immer noch Unzeitgemässes verteidigen, von Verbotenem profitieren, ausbeuten oder betrügen.
Wie immer Historiker*innen unsere Epoche später benennen werden – vielleicht «Reconnaissance»? – eines ist offensichtlich: Wieder lernen Männer und Frauen rasch, diesmal: mailen, whatsAppen, twittern, teilen und durchschauen. Und erneut gerät ein kolossales Missverhalten ins Abseits. Diese epochalen Ereignisse überziehen den Globus mit dem neuen Gegenwartsverständnis, jenem des Transparenz-Gebots als Schlüssel zur Zukunft. Wenigstens dort, wo Demokratien gelebt werden können.
Scheinwerferlicht erhellt die Dunkelkammern
Sie erinnern sich: Das schweizerische Bankgeheimnis. Dessen Hauptverteidiger, ein damaliger Bundesrat eingeschlossen, mit ihrer tiefverwurzelten Überzeugung im medial verbreiteten «daran werden sie sich die Zähne ausbeissen», repräsentierten das alte Denken. Kurz darauf aber die sang- und klanglose, klägliche «Kapitulation» vor der Übermacht ausländischer Eigeninteressen.
Die Ausradierung eines profitablen Sonderzügleins der schlauen helvetischen Finanz- und Steuerexperten im Jahr 2017 markierte mit Getöse das Ende einer sprudelnden Geldquelle: jener der diskreten Steueroptimierung oder -vermeidung. Es symbolisiert auf spektakuläre Weise den Kollaps des «vortransparenten» Geschäftsmodells der cleveren Erfinder: Verschleierung von Tatsachen zugunsten eben dieser Erfinder, gleichzeitig zulasten Dritter – eigentlich der rechtmässigen Anspruchshalter.
Meine These: Die neu geschaffene Transparenz im Sinne eingangs aufgezeigter Möglichkeiten des aufkommenden IT-Zeitalters ist Auslöser einer der eindruckvollsten Manifestationen des laufenden Epochenwandels. Nicht wenige aus der Zeit gefallene Sonderregelungen werden auf die hell erleuchtete Bühne der Aufräumer und Whistleblower gezerrt. Anfänglich von Ewiggestrigen mit Millionenaufwand durch alle Böden verteidigt oder verschleiert, werden solche «Päckli» früher oder später durchschaut, abgeschafft. Deren Zeit ist abgelaufen, ihre wahre Absicht durchschaut, die Kammern einst stolz verdunkelter Geheimniswerkstätten werden mit dem Scheinwerferlicht der Transparenz brutal ausgeleuchtet.
Welche solcher Sonderregelungen gemeint wären? Lesen Sie gleich hier weiter:
Inventar durchschauter, weitgehend geheimer «Abkommen»
Gekaufte Politik:
Wer finanziert aus dem Hintergrund unsere politischen Parteien?
Wer bezahlt die politischen Wahl- und Abstimmungskampagnen?
Für wen und was lobbyieren im Bundeshaus Nichtparlamentarier?
Welche Parlamentarier erhalten wie viel Geld für privates Lobbying?
Gesetzgebung:
Warum wird das Öffentlichkeitsgesetz unterlaufen?
Wer profitiert von Schlupflöchern in der Geldwäscherei-Vorlage?
Wer hintertreibt ein zeitgemässes Whistleblower-Gesetz?
Varia:
Realisierten Sie, dass Richterstellen bei uns «verkauft» werden?
Warum wurde der Whistleblower-Arzt am Universitätsspital Zürich Knall auf Fall entlassen?
Wie fleissig werden am selben Spital Rechnungen für erfundene Konsultationen geschrieben?
Interessiert Sie der tiefe Graben im Gewerbeverband, ans Tageslicht befördert durch ein geleaktes Papier?
Wussten Sie, dass sich 88,4 Prozent der Abstimmenden in der Stadt Bern für ein griffiges Transparenzgesetz aussprechen?
Haben Sie mitbekommen, dass das Bundesgericht den Kanton Schwyz für sein Parteienfinanzierungsgesetz und dessen «Buebetrickli» der Spendendeklaration von nur 1000 Franken gerügt hat?
Und was sagen Sie zum Vorschlag im Kanton Zürich, nur Parteispenden über 5000 Franken durch ein neues Gesetz zu erfassen?
Die Vielzahl dieser spontan und eher zufällig gelisteten Verschleierungssituationen überrascht Sie? Waren auch Sie der Meinung, die Öffentlichkeit hätte Anspruch auf die Informationen, wie staatliche Entscheidungsprozesse ablaufen? Haben Sie schon einmal in Bern Informationen über das Handeln von Bundesrat und Bundesverwaltung verlangt respektive erhalten?
Es wird viel über Transparenz geredet, doch auf Bundes- und Kantonsebene verhindern aktive Politiker*innen oft überfällige Reformschritte. Da haben es die Gemeinden einfacher: Das Transparenz-Thema ist meistens gar keines.
Wer hat’s erfunden?
Zugegeben, ich bin ein grosser Verfechter dieser aktuellen Transparenz-Geschichte. Ist es nicht faszinierend, wie Thema um Thema erfasst, eine Information nach der andern geleakt wird, eine Dunkelkammer gefolgt von der nächsten ins Scheinwerferlicht gerät – wie eine Entwicklung gnadenlos ihren Gang nimmt? Man muss diesem «durchschaut!»-Kurs nur seinen Gang lassen, es ist eine der Manifestationen des epochalen Wandels, in dem wir gerade stecken.
Damals, vor 20 Jahren, als ich mein erstes Buch schrieb, gab ich ihm den Titel «Die Glaskugel-Gesellschaft – Transparenz als Schlüssel zur Moderne», auf dem Cover abgebildet hatte ich die Weltkugel. Auf meiner Homepage (www.glaskugel-gesellschaft.ch) erkläre ich das noch genauer – Kritik und Fragen meiner Freunde hatten mögliche Missverständnisse offengelegt. Darum Glaskugel: «Die fragile Glaskugel als Signatur einer transparenten, globalisierten und selbstverantwortlichen Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht für die vom All her gesehene Erdkugel von verletzlicher Schönheit und zerbrechlichem Gleichgewicht, von endlicher Grösse, aber ohne Grenzen.»
Ende 2020 wurde in Zürich die «Globalance World», eine digitale, interaktive Weltkugel lanciert, die «für mehr Durchblick sorgt». Die Idee dahinter: Wer in Aktien investiert, soll zukünftig – auf Knopfdruck sozusagen – weltweit erfahren können, wie sich die gewählte Firma bezüglich Nachhaltigkeit im Weltmarkt bewegt. Hauptanliegen von «Globalance World» ist, «Transparenz zu schaffen», so der Initiator. Investoren können fortan über ihr eigenes «Google Earth» verfügen.
Hier wie dort: die Weltkugel, Schauplatz einer neuen Transparenz. Sie umfasst auch das Gebot der Nachhaltigkeit, das der Klimaerwärmung gegenhalten muss.
Doch wer hat’s erfunden? Wer hat die Idee in die Welt gesetzt, dass die nächste Welt die Möglichkeit einer neuen geistigen Haltung in sich birgt? Wer hat den Leitsatz formuliert, dass dabei die Transparenz – das Durchsichtigmachen – mitprägend sein wird? Jean Gebser.
Gebser (1905–1973) gilt als einer der ersten kulturwissenschaftlich orientierten Bewusstseinsforscher und hat, mitten im letzten Jahrhundert schon, ein Strukturmodell der Bewusstseinsgeschichte des Menschen etabliert.
Nicht Entweder-oder sondern Sowohl-als-auch
Wer Gebser kennenlernen möchte, sollte sein Hauptwerk «Ursprung und Gegenwart» lesen, doch er sei gewarnt. Auf tausend Seiten breitet der Dichter sein pionierhaft gedachtes und strukturiertes zukünftiges Weltbild aus, eine Umbruchszeit, geprägt von tiefgreifenden Wandlungen.
Das besonders Spannende und Fruchtbare an seinem Ansatz ist der Versuch, eine über das Mental-Rationale hinausgehende Bewusstseinsmöglichkeit zu beschreiben: das integrale Bewusstsein, das die Wahrnehmung der Zeit und damit der dauernden Veränderung zulässt, das dualistische Entweder-oder, die rationalen Eindeutigkeiten nicht verneint, aber überwindet und sich für die Transparenz des geheimnisvollen Ganzen öffnet.
Gebser hat sein eigenes Strukturmodell der Bewusstseinsgeschichte der Welt und des Menschen etabliert. Er unternahm den risikoreichen Versuch, über das im 20. Jahrhundert prägende mental-rationale Verhalten der Menschen hinauszugehen und das Szenario eines integralen Bewusstseins zu erahnen, das er für die kommende Epoche als eine der Hauptmanifestationen hielt.
Für den Menschen der ausgehenden mentalen Epoche des 20./21. Jahrhunderts (so seine Bezeichnung für die Gegenwart) fasste er eine ihrer Maximen so zusammen: «Alles messen, was messbar ist, und alles messbar machen, was es noch nicht ist. Durch die Materialisierung hat sich im Laufe der letzten Jahrhunderte jenes extrem dualistische Denken heraufbeschworen, das in der Welt nur zwei gegensätzliche und unversöhnliche Komponenten anerkennt.
Man könnte meinen, Gebser hätte die Bevölkerung der USA im Herbst 2020 im Kopf vorausgeahnt.
Vorstösse für mehr Polit-Transparenz scheitern seit Jahrzehnten
Werfen wir nochmals in aller Kürze einen Blick auf das oben aufgeführte Inventar politischer Versäumnisse. Aus Platzgründen vertiefe ich die sechs auf Bundesebene ablaufenden Geplänkel.
Für mehr Transparenz in der Politikfinanzierung wurde im Oktober 2017 die Transparenz-Initiative eingereicht. Der Bundesrat bezweifelt jedoch, dass die finanziellen Mittel einen wesentlichen Einfluss auf die Ergebnisse von Abstimmungen und Wahlen hätten. Die Volksabstimmung dürfte 2021/2022 stattfinden. Somit bleiben Parteispenden vorerst anonym. Millionäre dürfen also weiter «schmieren». (Immerhin tut sich etwas auf Kantonsebene: Im Dezember 2020 wurde im Kanton Zürich eine parlamentarische Initiative im Kantonsrat eingereicht, die diesbezüglich mehr Transparenz fordert, und die Stadt Bern hat sich im September 2020 für mehr Transparenz bei der Parteienfinanzierung entschieden).
Seit Einreichung der parlamentarischen Initiative zur Beschränkung der Lobbyisten im Jahr 2015 streiten sich die Räte über Sinn und Unsinn des Anliegens. So oder so sollen die Ratsmitglieder weiterhin darüber entscheiden, wer in Zukunft Zutritt zum Bundeshaus haben soll. Heute kassieren mehr als drei von vier Parlamentarier*innen aus Lobby-Nebenämtern von ihren Auftraggebern zusätzlich Geld in der Höhe von bis zu sechsstelligen Beträgen.
Das Bundesgesetz über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung (BGÖ, Kurzform Öffentlichkeitsgesetz) trat am 1. Juli 2006 in Kraft. Alle Personen erhalten gemäss diesem Gesetz grundsätzlich Zugang zu jeder Information und jedem Dokument der Bundesverwaltung. In der laufenden Revision heisst es aber: Der Zugang kann zum Schutz überwiegender öffentlicher oder privater Interessen eingeschränkt werden. Behörden und Verwaltungen wissen das anzuwenden.
Mit der vom Bundesrat verabschiedeten Botschaft zur Revision des Geldwäschereigesetzes bleibt die Geldwäschereibekämpfung in der Schweiz lückenhaft. Zwar werden wichtige Mängel im Schweizer Anti-Geldwäschereidispositiv angegangen. Die vorgeschlagenen Massnahmen genügen aber nicht, damit Geldwäscherei inskünftig effektiv bekämpft werden kann, wie Transparency International Schweiz sagt. Profitieren dürften vorab die Grossbanken.
Whistleblowerinnen und Whistleblower müssen weiterhin damit rechnen, ihre Stelle zu verlieren und vor Gericht gezerrt zu werden. Nach zwölf Jahren Arbeit und unzähligen Debatten ist ein Schutz für Leute, die Missstände aufdecken, politisch nicht mehrheitsfähig – mit 147 zu 42 Stimmen hat der Nationalrat 2020 die Whistleblowingvorlage abgelehnt. «Der Nationalrat beerdigt damit jahrelange Gesetzgebungsarbeiten und dies im krassen Gegensatz zur EU, die gerade eben den Whistleblowingschutz markant verbessert hat», so Martin Hilti, Geschäftsführer von Transparency International Schweiz.
Die «NZZ am Sonntag» fragt: «Um Richter zu werden, muss man bezahlen. Das Geld geht an die Parteien, die darum nichts ändern möchten. Ist das überhaupt legal?» Eine Volksinitiative verlangt nun, Richterstellen künftig per Los zu vergeben.
Wann platzen Blasen?
Fehlende Transparenz ist einer der Hauptgründe für das Entstehen von «Blasen»: die Immobilienblase als Beispiel, Grund auch der letzten Weltwirtschaftskrise 2007/2008. Seit Jahren wird gewarnt vor dem Platzen dieser Blase in der Schweiz. Interessierte Kreise loben das Investment in Immobilien als Alternative in Negativzins-Zeiten. Baubranche, Makler, Banker – alle freuen sich über die (scheinbar) endlos steigenden Immobilienpreise.
In der Schweiz, dem Land der extrem hohen Verschuldung von Privatpersonen (Hypotheken), sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass der «Global Real Estate Transparency Index», der 99 Länder weltweit durchleuchtet, uns nur auf Rang 22 aufführt, mehr als eine mässige Beurteilung.
Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann jedenfalls erhebt den Warnfinger. Eine Rezession (auch als mögliche Folge der Corona-Situation) könnte zu Arbeitslosigkeit führen und diese zu Schwierigkeiten, die Mieten oder Schuldzinsen zu bezahlen, aber auch zu steigender Leerstandsquote mit Folgen für die involvierten Banken. Dieses Szenario hatten wir in der Schweiz letztmals in den 1990er-Jahren.
Transparenz als Schlüssel zur Zukunft
Für mich persönlich ist das Transparenzgebot ein Türöffner zur Bewältigung zukünftiger Herausforderungen. Öffentlich statt geheim im Politikalltag ist ein Muss. Im 21. Jahrhundert sollen die Dunkelkammern im Bundeshaus, in Regierungsgebäuden, aber auch in Konzernzentralen ausgeleuchtet werden. Diese Anliegen werden unterstützt durch:
Transparency International Schweiz (Transparency Schweiz), welche Korruption in der Schweiz und in den Geschäftsbeziehungen von Schweizer Akteuren mit dem Ausland bekämpft. Transparency Schweiz bildet die Schweizer Sektion der globalen Bewegung Transparency International. Ihre Vision ist eine integre Schweiz, in der die Gesellschaft Korruption in keiner Form toleriert. Dafür haben Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zweckmässige Massnahmen gegen Korruption und unethisches Verhalten zu treffen und umzusetzen.
Haben Sie Zeit?
Eine oft gehörte Antwort auf höfliche Anfragen zum persönlichen Dialog lautet: «Ich habe keine Zeit»! Dieses verräterische Eingeständnis des rein quantitativen Denkens prägt unsere Gegenwart. Vergessen gehen dabei die qualitativen Werte der Zeit. Nochmals zurück zu Gebser, der schrieb: «Der Einbruch der Zeit in unser Bewusstsein, [der Verlust des qualitativen Zeitwertes], dieses Ereignis ist das grosse und einzigartige Thema unserer Weltstunde.» Er beschrieb damit eine weitere, prägende Manifestation der gegenwärtigen Mutation (unterwegs in die nächste Epoche).
Gebser präzisiert das Klima dieser neuen Mutation. Wohl unbeabsichtigt richtet sich sein Fokus auf den Begriff «Klima» – längst im ursprünglichen Sinn als zeitprägende Bedrohung der Erwärmung unseres Planeten existent. «Mutationen sind immer dann aufgetreten, wenn die herrschende Bewusstseinsstruktur zur Weltbewältigung nicht mehr ausreichte. So war es auch bei der letzten, historisch überblickbaren Mutation …». Klima im übertragenen Sinn – es lohnt sich, darüber länger nachzudenken, sofern … Sie Zeit haben.
«Eine Gesellschaft, die Zeit hat.»
Birgt die vorwiegend als Bedrohung und Belästigung wahrgenommene Covid-19-Zeit gar die grosse Chance in sich, die Verlangsamung des Tagesablaufs neu zu nutzen – durch qualitative Aufwertung der Zeit und aktive Förderung des Transparenzgedankens?
*«Essay» – wie das Wort sagt, ein Versuch