Christian Mann: «KLIO - Die Demagogen und das Volk», Akademie Verlag, 2007
(Die nachfolgend kursiv geschriebenen Sätze entstammen dem Buch:
«Die Demagogen und das Volk»
Verblüffend ähnlich sind die Merkmale politischer Kommunikation im 5. Jahrhundert v.Chr. im Vergleich zum 21. Jahrhundert. Zumindest, was Demagogen und Populisten betrifft. Vergleiche zwischen damaligen und heutigen Vertretern dieser «Zunft» sind gestattet.
Ein weltweites Phänomen
Donald Trump, Viktor Orban, Recep Erdogan, Wladimir Putin, Jair Bolsonaro, Nicolas Maduro und wie sie alle heissen: Sie alle kümmern sich wenig um die akzeptierten demokratischen Regeln. Sie widersetzen sich altbewährten Usanzen bei der Regierungsführung, sie künden internationale Vereinbarungen auf, sie kümmern sich wenig um Parlament und politische Parteien. Sie gefährden die Demokratien weltweit. Sind dies nun Demagogen oder Populisten – oder beides?
Was sagen Nachschlagewerke?
Wer sich in diesen Tagen des heissen Sommers 2020 fragt, ob wir auch in der Schweiz unsere Probleme mit dieser Frage hätten, konsultiert vielleicht zuerst den Duden. Demagogie wird folgende Bedeutung zugemessen: «Volksverführung, Volksaufwiegelung, politische Hetze», Synonyme sind: «Manipulation, Propaganda, Verführung, Werbung». Ergänzt wird nach Martin Morlock auf Wikipedia: «Demagogie betreibt, wer bei günstiger Gelegenheit öffentlich für ein politisches Ziel wirbt, indem er der Masse schmeichelt, an ihre Gefühle, Instinkte und Vorurteile appelliert, ferner sich der Hetze und Lüge schuldig macht, Wahres übertrieben oder grob vereinfacht darstellt, die Sache, die er durchsetzen will, für die Sache aller Gutgesinnten ausgibt, und die Art und Weise, wie er sie durchsetzt oder durchzusetzen vorschlägt, als die einzig mögliche hinstellt.»
Unter Populismus versteht der Duden: «Von Opportunismus geprägte, volksnahe, oft demagogische Politik, die das Ziel hat, durch Dramatisierung der Lage die Gunst der Massen (im Hinblick auf Wahlen) zu gewinnen.» Bei Wikipedia wird es ausführlicher: «Dem Begriff Populismus werden von Sozialwissenschaftlern mehrere Attribute zugeordnet. Charakteristisch ist eine mit politischen Absichten verbundene, auf Volksstimmungen gerichtete Themenwahl und Rhetorik. Dabei geht es einerseits um die Erzeugung bestimmter Stimmungen, andererseits um die Ausnutzung und Verstärkung vorhandener Stimmungslagen zu eigenen politischen Zwecken. Oft zeigt sich Populismus auch in einem spezifischen Politikstil und dient als Strategie zum Machterwerb.
«Zum Machterwerb.» Steht erst am Schluss und eher beiläufig. Solchermassen mit Informationen gefüttert, fragen wir uns also in einer ruhigen Stunde, auf wen in der Schweiz solche Beschreibungen zuträfen?
«Die Demagogen in der politischen Theorie der Antike
Die antiken Philosophen sahen in den Demagogen einen essentiellen Baustein der athenischen Demokratie, und ebenso wie sie sich in der moralischen Ablehnung dieser Verfassungsform weitgehend einig waren, stellen sie auch den Demagogen ein vernichtendes Zeugnis aus. So übt Platons Sokrates im «Gorgias» heftige Kritik an den Demagogen. Diese leisteten keinen Beitrag zur Belehrung und moralischen Besserung der Bürger Athens, denn nicht die Verkündung von Wahrheit, sondern die Erzeugung von Wohlwollen beim Zuhörer sei der Zweck ihrer Reden, und nicht das Wohl der Polis, sondern eigener Vorteil sei ihr Ziel.
Die Imago eines Demagogen wurde im Wesentlichen in der direkten Kommunikation mit dem Volk gestaltet. Das wichtigste «Medium» war dabei der eigene Körper – im weitesten Sinne: Physiognomie, Frisur, Bart, Gestik, Kleidung, Stimme etc. unterlagen Kodierungen, die teilweise aus der archaischen Zeit übernommen, teilweise neu vorgenommen wurden.»
Aus heutiger Sicht
Letzterer Satz in der antiken Beschreibung, bezogen auf gegenwärtige Anwärter dieses Status’, könnte so formuliert werden: Der Demagoge unterstreicht seine ans Volk gerichteten Worte mit weitausholenden Armbewegungen, diese typische Gestik ist noch eindrücklicher als seine warnende Stimme, Anschuldigungen an «die da oben» sind übertrieben bis an die Grenze der Unterstellung. Er ist überzeugt davon, dass er an die Macht gehört, weil er – und nur er – die Wahrheit kennt. Er benutzt Interviews und öffentliche Auftritte dazu, der Leserschaft mitzuteilen, was diese hören will und bedient sie dazu grober Vereinfachung komplizierter Zusammenhänge. Er verfügt über ein Sensorium für das gerade dominierende Meinungsklima und umgibt sich beim Photo-Shooting mit Vorliebe mit gegenständlichen Kunstwerken berühmter, einheimischer Künstler aus vergangenen Zeiten.
Rechtspopulisten spalten das Volk, ihr simpel gestricktes Gesellschaftsbild unterscheidet ausschliesslich zwischen WIR («gottlob gibt es uns!») und den ANDERN («der Bundesrat und das links-grüne Parlament das Geld zum Fenster hinauswerfen»). Um ihren Anschuldigungen mehr Gewicht zu geben, erfinden sie laufend Sündenböcke und unterstellen diesen staatsschädigende Geldverschwendung.
Reichtum vorausgesetzt
«Nicht der Erwerb von Besitz ist jedoch im Rahmen der vorliegenden Arbeit von Interesse, sondern der Einsatz von Besitz in der Politik. Ökonomische Abkömmlichkeit war im demokratischen Athen die Voraussetzung für eine demagogische Karriere – dies ist schon mehrfach betont worden -, doch spielte die ökonomische Leistungsfähigkeit der Demagogen noch eine weitergehende Rolle? Konnte sich ein reicher Demagoge durch den Einsatz von Geld einen Vorteil gegenüber seinen Konkurrenten verschaffen und seine Position für die kommende Wahl oder die nächste Debatte in der Volksversammlung verbessern? Konnte Besitz in politische Macht umgemünzt werden, und wenn ja, auf welchen Wegen? Und inwieweit feilten Demagogen durch öffentliche Präsentation ihres Besitzes an ihrem Image?»
2020 ist Reichtum diskret getarnt, aber selbstverständlich spielt es eine Rolle bei der Imagepflege der Demagogen. Man spendet grosszügig und sorgt dafür, dass darüber im Volk anerkennend diskutiert wird. Ob sich dadurch ein reicher Demagoge einen Vorteil bei kommenden Wahlen und Abstimmungen erhofften kann, ist nicht bewiesen.
In der Gegenwart repräsentieren autoritäre Staatsführer – solche gibt es auch in sogenannten Demokratien – eine Mischung aus beidem: Demagogie und Populismus. Mehr oder weniger zielgerichtet streben sie nach Macht, möglichst uneingeschränkter. Die Schweiz ist zu klein und zu direktdemokratisch, um solche Tendenzen zuzulassen. Nichts desto trotz sind Veranlagungen, Sendungsbewusstsein und rhetorische Begabungen wie oben geschildert bei Staats-Männern «natürlich aus der Schweiz» unübersehbar.
Stellen wir uns vor, dass im alten Griechenland Politik im Rahmen von Veranstaltungen bestimmt wurde; diese hatten in der Regel einige hundert Teilnehmer. Der Vergleich mit heute fällt da leicht und spontan: Die alljährliche Albisgüetli-Tagung ist gemäss Selbstdeklaration «die grösste politische Veranstaltung der Schweiz.»