(Vierteilige Serie, 3/4)
1/4: Das System
2/4: Steigende Ungleichheit?
4/4: Ideologische Populisten attackieren Demokratien
Wohl nur noch die vor 1945 Geborenen erinnern sich des eindrücklichen Aufrufs „Wer nicht schweigen kann, schadet der Heimat.“ Er sollte die geistige Widerstandskraft in der Schweiz stärken – in schwierigen Zeiten. Zwar leben wir heute in unruhigen Zeiten, keineswegs vergleichbar mit den Kriegsjahren 1939 – 1945. Aber es ist auch zurzeit angebracht, die geistigen Widerstandskräfte zu stärken, die Losung lautet jetzt: „Wer schweigt, schadet der Heimat.“
„Das Volk“ protestiert in den USA
Als am 21. Januar 2017 rund eine Million Menschen am grössten je erlebten Protestmarsch (Women's March) in der Geschichte Washington D.C.‘s durch die Strassen der amerikanischen Hauptstadt zog, passierte Eindrückliches. Mit 1400 Bussen aus dem ganzen Land waren sie angereist. In weiteren 600 Städten der USA marschierten sie, geschätzte vier Millionen aufgebrachter Menschen, viele mit rosa Pussy-Mützen und Spruchschildern: „Wir, das Volk, haben Trump nicht gewählt“.
„Unser Aufstand hat begonnen!“ Siri Hustvedt kämpferische Schriftstellerin war mit dabei. Eine ihrer Botschaften: Jene 63 Prozent der weissen Männer, die Trump zum Sieg verholfen haben, sind nicht die Stimme des Volkes.
Entscheidend an den seither weltweit anhaltenden Protestmärschen ist die Motivation der aktiven Menschen, die aufgewacht sind. Es ist eine Mischung aus Besorgnis und Verantwortungsgefühl, die sie motiviert. Laut und deutlich ist ihre Botschaft: „Wer jetzt schweigt, schadet der Heimat!“
Massenproteste in Rumänien
Anfangs Februar 2017 demonstrierten täglich rund eine halbe Million mutiger Menschen in Bukarest und kleineren Städten Rumäniens. Seit dem Sturz Ceausescus 1989 hat das Land keine auch nur ähnlich eindrücklichen Massenproteste gesehen. „Das Volk“ war und ist wütend. Zwar zog die Regierung darauf das umstrittene Dekret kleinlaut zurück, doch die aufgewachten Menschen demonstrierten weiter. Sie hatten die Nase voll von ihrer Regierung, von „einer korrupten Bande von Dieben“, die sich selbst vor der Strafverfolgen wegen Korruption retten wollte.
Auslöser des Massenaufmarsches war der fadenscheinige Versuch der rumänischen Regierung, mit einem Erlass dem vorbestraften PSD-Parteichef Liviu Dragnea den Weg zur Regierungsspitze ohne lästiges Eingreifen der Justiz zu ermöglichen. Angeführt wurde der landesweite Protestkampf von der Staatsanwältin Laura Codruta, die ihrem Volk in Erinnerung gerufen hat, dass auch die Spitzenpolitiker nicht ausserhalb des Gesetzes stehen. Wie der TA berichtet, ist die Bilanz dieser mutigen Frau („ich mache nur meine Arbeit“): Angeklagt wurden inzwischen ein Regierungschef, fünf Minister, 21 Parlamentarier, 97 Lokalpolitiker, 32 Direktoren von Staatsunternehmen und rund 500 Beamte.
Signale an Polen und Ungarn
In Polen richtete sich derweil Kritik und Massenproteste des Volkes gegen die von der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ angeführte Regierung. Diese hatte bereits im ersten Jahr der Regierungstätigkeit mit ihrem erfolgreichen Putsch gegen das Verfassungsgericht demonstriert, wie das Recht im Land ihren Vorstellungen auszusehen hätte. Den Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit wollen besorgte Bürger nicht hinnehmen.
In Ungarn scheint es momentan kein wirksames Mittel gegen die demokratieverachtende, autoritäre Politik Viktor Orbans zu geben.
Die mutigen Demonstranten in Rumänien signalisierten mit ihren Plakaten wie „Europa, wir stehen ein für deine Werte. Mit Liebe, Rumänien“ eine besorgte Botschaft, ein bemerkenswertes Zeichen über die Landesgrenzen hinaus. „So kann es mit unserer Demokratie nicht weitergehen“, könnte man das auch bezeichnen. Der Kampf des Volkes wird in Rumänien durch seinen liberalen Staatspräsidenten Klaus Johannis unterstützt und erhält damit entscheidendes Gewicht – in Polen und Ungarn fehlt es zurzeit noch an einer ähnlichen Konstellation.
Worum geht es?
„In der Vergangenheit hat das Schweigen schon zu politischen Katastrophen geführt […], das Abwarten, Schweigen und Dulden hat oft zum Unheil beigetragen“, so zitierte die Sonntagszeitung Ueli Mäder, emeritierter Professor an der Uni Basel. Auch Georg Kohler, emerit. Professor für politische Philosophie doppelt nach: „Es gehört zu einer Demokratie, dass sich die Menschen Gehör verschaffen“.
Diese beiden Stellungsnamen sind begrüssenswert. Nur aussergewöhnliche Umstände würden sie auf die Strasse bringen, meinten diese Wissenschaftler. „Trumps Angriff auf die Wissenschaft ist ein solcher Umstand.“
Nun planen Wissenschaftler für den 22. April 2017 ihrerseits einen Marsch in Washington D.C. Bereits zählt diese Bewegung Hunderttausende von Followern. Die Frage ist nun: Wer ist stärker, „das Volk“ oder der Präsident, der sich seit Monaten auf das Volk bezieht und sich als dessen Retter versteht?
Was heisst das alles für uns in der Schweiz? Sind wir überhaupt betroffen von diesen Ereignissen? Die Antwort lautet: Ja, wir sind es. Denn es geht um sehr viel: um den globalen Zustand der Freiheit, der gesellschaftlichen Werteordnung und um den Zerfall der Demokratien.
Demonstrationen zur Verteidigung unserer Werte
In den letzten 70 Jahren, im Verlauf von etwas mehr als zwei Generationen, hat sich in den westlichen Demokratien ein „Selbstverständlichkeits-Trend“ etabliert, ein langsam wirkendes Gift. Wir nehmen, nach Jahrzehnten des Wohlstandszuwachses und des Friedens, diese Errungenschaften als selbstverständlich an. Vergessen gegangen (oder gar nicht erst bekannt) sind die Wirrnisse des letzten Jahrhunderts und die Bedingungen, die zu zwei Weltkriegen geführt haben. Geschichtswissen über diese Epoche gehört in Zeiten von Facebook und Twitter nicht mehr zur Basisausbildung der Jungen.
Unser modernes Gesellschaftsmodell hat dazu geführt, dass das Engagement für das Fundament unserer Demokratien erodiert, auch in der Schweiz. Das Leisten von Militärdienst ist nicht cool, das Engagement in der Politik überlassen wir anderen. Für Freiwilligenarbeit fehlen, angesichts des beruflichen Stresses, Zeit und Motivation. Die Übernahme von Verantwortung ausserhalb des engsten Familienumfelds ist aus der Mode gekommen. Eine gewisse Selbstgefälligkeit ersetzt persönliche Vorsorge und Nachbarschaftspflege. In der Werteskala stehen nicht selten zuoberst: Salär- und Steueroptimierung, Ferien in der Karibik, Wohnungs- und Prestigeautokauf (auf Kredit). Aus Demokraten sind Konsumenten geworden.
Der Retter, die Retterin
Es ist offensichtlich kein Zufall, dass sich in westlichen Gesellschaften eine neue Krankheit ausbreitet. „America first“, schreit Trump. „Brexit means Brexit”, beschwört die britische Premierministerin ihre Regierungskolleginnen und –kollegen „Die EU ist der Ursprung aller Krisen, die wir durchmachen“, ruft in Frankreich Marie Le Pen vom Front National. Derweil verspricht Franke Petry (AfD) Deutschland vor dem Untergang zu retten und Geert Wilders von der holländischen PVV wettert gegen Islam und Asylanten.
Alle versprechen sie ihrem Volk Freiheit. In der Schweiz begrüsst Roger Köppel (Weltwoche) die Leserinnen und Leser auf seinem Video mit den Worten: „Ich bin ihr bescheidener Korrespondent […] „wir bemühen uns, Ihnen die Wirklichkeit zu geben, die Wahrheitspresse“. Die Wirklichkeit, die Wahrheit – Trumps Wahrheit, Theresa Mays Wirklichkeit, Köppels Wahrheitspresse… In der gleichen Woche lesen wir auf dem Weltwoche-Aushang am Kiosk: „Trump verstehen“. Trumps Wirklichkeit?
„Das Volk“ schweigt nicht mehr
Die hier geschilderten Massenproteste sind ein gutes Zeichen in weniger guten Zeiten. Doch, wer ist eigentlich das Volk? Auch in der Schweiz ist diese Frage berechtigt, denn seit drei Jahren wiederholt die SVP - nach der „vom Volk“ angenommenen Masseneinwanderungsinitiative - „die Mehrheit von Bundesrat und Parlament ignorierten diesen Volksentscheid und stellten damit das Fundament unserer direkt-demokratischen politischen Ordnung in Frage“.
50,3% der Abstimmenden hatten jene Vorlage angenommen. Gemessen an den Stimmberechtigten waren das 28,2%. Die Gesamtbevölkerung der Schweiz („das Volk“?) belief sich zu jenem Zeitpunkt auf 8‘081‘000 Personen, somit hatten 18.1% des Volkes Ja gesagt. Diese Rechnung ist natürlich nicht statthaft, doch sie relativiert den Vertretungsanspruch des Volkes durch die populistischen Führer, da und anderswo. Wer, wie Alfred Rösti, Parteipräsident der „Volks-Partei“ nach drei Jahren parlamentarischer Diskussionen von „Verfassungsbruch“ schwafelt, der rüttelt tatsächlich am Fundament des Schweizerischen Demokratieverständnisses.
„Das Volk“ ist die Bevölkerung einer Nation. In deren Namen zu sprechen ist eine Anmassung und Überschätzung der eigenen Ideologie. Oder anders: Die Wirklichkeit, die nur Demagogen kennen und die Wahrheit, über die nur sie verfügen und die sie verkünden, beides zeugt von erschreckender Unwissenheit.
Deshalb war es höchste Zeit, dass „das Volk“ – in der Schweiz am 12. Februar 2017 - das Schweigen brach und sich die Menschen ihrer persönlichen Mitverantwortung am Gang der Politik und am friedlichen Gedeihen eines Landes bewusst wurden.