Der Wachstumsfetisch in Wirtschaft und Politik ist weder nachhaltig, noch Garant für eine gute Zukunft. Im Gegenteil. In den letzten 60 Jahren ist die Weltwirtschaft stärker gewachsen als vom Beginn der Zeitrechnung an bis zum Zweiten Weltkrieg. Aber warum brauchen wir denn unbedingt Wachstum? Gemäss ZEIT1 „weil der individuelle Nutzen der Wirtschaftssubjekte steigt, wenn mehr Güter und Dienstleistungen gekauft werden“ (die Wirtschaftssubjekte, das sind die Menschen…). Der Mensch braucht Wachstum, weil es ihn glücklich macht. Damit er seine steigenden Ansprüche befriedigen kann.
Die Frage ist nur: wenn wir uns all diese Dinge kaufen können (Auto, Zweitwohnung, Fernreisen, elektronische Geräte usw.), sind wir dann zufriedener als vorher? Gemäss Studien der Glücksforschung „macht Wachstum tatsächlich glücklich, aber nur, wenn man sehr wenig besitzt.“ Es sind also die ersten grossen Sprünge: Auto statt Velo, Wohnung statt WG-Zimmer, erste Reise nach Paris statt Wanderferien im Zürich-Oberland, Waschmaschine statt Waschsalon. Doch ab einem gewissen Niveau hebt das Wirtschaftswachstum die Zufriedenheit nicht mehr. Hand aufs Herz: da sind wir doch alle schon längst angekommen! In den ökonomischen Lehrbüchern findet sich Grundsätzliches zum Daseinszweck der freien Marktwirtschaft. So zum Beispiel, erste Aufgabe des Marktes sei es, die Knappheit zu überwinden. Auch da sind wir uns einig: diese Knappheit gibt es bei uns längst nicht mehr.
Was soll also das Gerede von Wachstum, die Beteuerung von Politikern, sie würden für neue Arbeitsplätze sorgen? Steigende Unternehmensumsätze sind das einzige politische Ziel, auf das sich weltweit alle Regierungschefs verständigen können. Dabei tappen sie schon in die Falle der Schuldenwirtschaft des 21. Jahrhunderts (siehe durchschaut! Nr. 45). Damit Konzerne und Staaten ihre Schulden begleichen können, sind sie auf Wachstum angewiesen. Im Klartext: Der Kapitalismus braucht Wachstum. Die Politik braucht den Kapitalismus, um zu überleben, wenigsten kurzfristig. Langfristig fährt uns diese Haltung an die Wand, nachhaltig ist sie nie gewesen. Dieses veraltete Denken gehört nicht ins 21. Jahrhundert.
Christoph Binswanger, emeritierter Professor der Uni St. Gallen, wollte schon vor Jahren das Bankensystem umbauen. Die Banken sollten nur noch das Geld ausleihen können, das sie schon haben. Doch wer will schon seinen Kopf hinhalten für solche Theorien? Deshalb wird das Problem weiterhin verdrängt.
Weitere Experten des „neuen“ Denkens arbeiten im Stillen an neuen Wachstumskonzepten. Joseph Stiglitz (Columbia University) und Amartaya Sen (Harvard) wollen die Lüge entlarven, dass unser aller Mass für Wirtschaftswachstum das Bruttoinlandprodukt (BIP)2 den Wohlstand der Nationen widerspiegele. Wie könnte eine solche Lösung aussehen? Heute werden die Arbeit stark mit Steuern und der Verbrauch von Natur kaum belastet. „Es fehlen deshalb jegliche Anreize, Material intelligent und sparsam zu verwenden, mit dem Effekt, dass die Welt geradezu kaputt gehen muss“.3
Und so werden heute jene, die für Nullwachstum plädieren, als Spinner abgetan. Doch was wäre, wenn die Wirtschaft ohne Wachstum plötzlich da wäre? Wenn sich früher oder später zeigte, dass es so nicht weitergehen kann und dass Wachstumskrisen (die kommen auch ohne menschliche Einsicht) die Weltwirtschaft und die internationale Politik unvorbereitet treffen würde?
Ein Problem zu lösen fängt mit der Erkenntnis an, dass es eines gibt. Wenn economiesuisse eine konsequente Wachstumspolitik statt Konjunkturaktivismus fordert, hat sie das Problem nicht erkannt. Wenn Suzette Sandoz in der NZZ am Sonntag gar schreibt: «Abnehmendes Wachstum bedeutet den Tod»3, dann kann man sich über einen solchen einfältigen Unsinn wirklich nur noch wundern. Wirtschaftswachstum fördert weder unsere Zufriedenheit, noch müssen wir heute noch Knappheit überwinden (schon eher den Überfluss). Ein neues Steuersystem, dass weniger die Arbeit als vielmehr den Verbrauch von nicht erneuerbarer Ressourcen belasten würde, könnte dagegen die Richtung weisen. Die Gesamtsteuerbelastung der Gesellschaft dürfte nicht steigen, wohl aber jene der Umweltignoranten und Klimaleugner. Der Umbau der schweizerischen Industrie und unserer Gesellschaft auf das neue Zeitalter wäre zudem ein grossartiges Projekt für ein kleines Land ohne nicht erneuerbare Energien.
1 DIE ZEIT, Nr.22, 2009.2 Ereignet sich z.B. ein Unfall, wird ein Auto zu Schrott und landet der Fahrer im Krankenhaus, dann wächst die Wirtschaft, diese Kosten werden zum BIP gerechnet, obwohl das Ereignis dem Mann wie der Gesellschaft schadet.
3 DIE ZEIT, Nr. 39, 2010 (Zitat von Effizienzforscher Friedrich Schmidt-Bleek).
4 NZZ am Sonntag, 28. August 2011.