„Wer nichts weiss, muss sehr viel glauben“, meinte einst die österreichische Aphoristikerin Marie von Ebner-Eschenbach. Übertragen auf die Schweizer Landwirtschaftspolitik könnte man daraus folgern, dass die helvetische Bevölkerung – was die weit verbreitete Duldsamkeit gegenüber den nicht auszurottenden Kuh-, Milch- und Käsemythen betrifft – sehr viel, zu viel, glaubt. Der Duden definiert „glauben“ mit „für wahr, richtig halten“.
Alle vier Jahre wiederholt sich die Agrar-Saga: Mit seiner Botschaft zur Agrarpolitik versucht der Bundesrat, leider zu stark beeindruckt von der mächtigsten Lobby der Schweiz (vereinigte Bauernlobbyisten aller Parteien), einen zeitgemässen Neuanfang – und scheitert grandios. Die Einflüsterer im Bundeshaus wollen nämlich für ihre Klientel gar keinen Strukturwandel, sie kümmern sich wenig um die seit Jahren sinkende Wettbewerbsfähigkeit des Agrarsektors, vor allem aber möchten sie weiter profitieren von annähernd drei Milliarden Direktzahlungen, die weitgehend unabhängig von ökonomischen und ökologischen Leistungen jährlich ausbezahlt werden. Am meisten freuen sie sie, wenn einmal mehr die (rund eine Milliarde betragenden) Versorgungssicherheitsbeiträge aufgestockt werden.1
In der neuen bundesrätlichen Botschaft für die Jahre 2014 bis 2017 sucht man, auch wenn die 200 Seiten akribisch durchgeblättert werden, vergeblich nach Anzeichen von Taten statt Worten. So sollten ursprünglich die gemeinwirtschaftlichen Leistungen gezielter gefördert und Innovationen und Wettbewerbsfähigkeit stärker unterstützt, resp. verbessert werden. Das Direktzahlungssystem wollte auf mehr Effizienz getrimmt sein. Alles Ziele, die bereits 2008 ins Auge gefasst, da sie ja schliesslich vom Souverän abgesegnet worden waren. Die damalige Auslegeordnung beeindruckte, war profund und stiess auf breite Zustimmung. Das Powerplay des Schweizerischen Bauernverbandes2 hat inzwischen zum Ziel geführt. Nicht für die breite Bevölkerung, nicht für die Konsumenten, nein, profitieren tun einzig unsere Bauern. Einmal mehr hat es der Bundesrat verpasst, die Landwirtschaft wirklich und ehrlich neu auszurichten. Schade.
Besonders das Trauerspiel „Versorgungssicherheit“ geht in die Verlängerung. Der Selbstversorgungsgrad soll weiterhin 60 Prozent brutto betragen. Damit wird Sicherheit suggeriert, Ernährungssouveränität (Swiss made) vorgegaukelt, die es natürlich gar nicht gibt. Ohne Importe von Dünger, Futtermitteln, Treibstoff könnte die uns allen liebgewordene Schweizer Landwirtschaft praktisch keine Kalorie produzieren – nicht zu denken an die importierten Landwirtschaftsmaschinen. Tatsächlich wird ja sogar unseren Milchkühen importiertes Kraftfutter serviert.3 Weiterhin fliessen die Millionen – in diesem Fall gut 400 Mio. jährlich – auch in einen fein verästelten Mechanismus von Marktstützungsmassnahmen; mit anderen Worten werden Verkäsungszulagen und Entsorgungsbeiträge für tierische Nebenprodukte gewährt, weil zum Beispiel überschüssige Milch „verarbeitet“ werden muss. Dies alles tönt nicht gerade nach zielstrebiger Neuausrichtung einer Branche, die – über vier Jahre gerechnet – 13,7 Milliarden Franken staatlicher Unterstützung erhält.4
Nicht verschwiegen werden soll, dass in der neuesten Botschaft auch einige zögerliche Fortschritte keimen. Kontinuierlich werden z.B. jene Beiträge erhöht, die für Kulturlandpflege oder Biodiversität gedacht sind (zulasten der früheren Produktesubventionierung). Die ursprüngliche Version des Berichts war allerdings deutlich reformfreudiger ausgestaltet gewesen. Doch Bundesrat Johann Schneider-Ammann kam den konservativen Bauern in gar vielen Einzelpunkten entgegen.
Wie kommt es zu dieser Entwicklung, die so gar nicht zu einem modernen (Export-) Land des 21. Jahrhunderts passt? Obwohl weniger als 3 Prozent der Bevölkerung direkt mit der Bauernschaft verbunden sind und deren Wirtschaftsleistung unter einem Prozent liegt, sind 13 Prozent der Bundesparlamentarier selber Bauern (ohne zugewandte Orte). Man muss anerkennen: Bauern politisieren und lobbyieren professioneller als sie Landwirtschaft betreiben. Sie kämpfen für Marktabschottung in einer Zeit, da sich die Exportindustrie, die für über 40% des BIP des Landes aufkommt, für Marktdurchlässigkeit auf dem Weltmarkt einsetzt. Oder liegt die Stärke der Grossmacht Bauern etwa eher in der Schwäche der andern Bundespolitiker? Tatsächlich ist unsere Landwirtschaftspolitik kompliziert, verwirrend und undurchsichtig. Ein Beobachter der Szene in Bern: „Mehr als die Hälfte des Parlaments versteht nicht, was es in der Landwirtschaftspolitik entscheidet.“5
Dass in dieser Branche keine Transparenz herrscht, erstaunt also nicht. So türmte sich der Butterberg im Frühling 2011 auf 10'000 Tonnen, wofür die Steuerzahler „zur Entsorgung“ erneut tief in den Sack greifen mussten. Dass unsere Milchverarbeiter gezwungen sind, subventionierte Butter zu exportieren, ist ein weiterer Skandal, der klar gegen WTO-Recht verstösst. In diesem Zusammenhang schreibt Thomas Held6: „Die Schweiz als Weltrekordhalter des bäuerlichen Heimatschutzes trifft dabei eine besondere Verantwortung.“ Mit „dabei“ meinte er die unrühmliche Praxis der EU-Staaten, der USA und weiterer Nationen, ihre eigenen Landwirtschaftsprodukte stark subventioniert in Drittweltländer zu exportieren und diesen damit die Möglichkeit des Anbaus und Exports ihrer eigenen, einheimischen Produkte praktisch zu verunmöglichen.
Ab und zu sollten wir uns Gedanken machen zu unserer Landwirtschaftspolitik, wir sollten uns für Details interessieren. Wussten Sie zum Beispiel, dass der bäuerliche „Subventionskönig“ aus dem Jura für seinen Betrieb jährlich Fr. 533'012.20 an Subventionen erhält und damit einen Jahresumsatz von 2.5 Millionen Franken erzielt?7 Oder, dass für die Subventionierung des Viehexports 4 Bundesmillionen in den Taschen der wenigen Händler landen?8 Die NZZ schrieb am 18. März 2011: „Bei der Landwirtschaft sind die Aufstockungen (nachträgliche, zusätzliche, nicht budgetierte Kreditbewilligungen) – schon im Budget 2011 war das Parlament grosszügig – jedoch primär mit dem Wahljahr zu erklären, in dem vorab SVP und CVP um die Gunst der Landbevölkerung buhlen. Das Lobbying von bäuerlicher Seite hat zurzeit ein Ausmass und eine Penetranz angenommen, die ihresgleichen suchen.“ Eine Nationalrätin kommentierte schon im Januar 2011 „Es ist unglaublich, was in der Landwirtschaftspolitik in Bern zurzeit abläuft“ und sieht die Gründe dafür im Wahljahr, indem niemand gegen den Agrarstand aufzutreten wagt. „Die Bauern geniessen eben viel Sympathie und pflegen gleichzeitig den Mythos der unermüdlichen, schlecht bezahlten Schaffer zugunsten des Landes.“9
Das schweizerische Idyll gepflegter Landschaften, stattlicher Bauernhöfe und einschläfernden Kuhglockengeläutes ist es uns allen Wert, erhalten zu bleiben. Was nicht heisst, dass auch auf den grünsten Wiesen Europas das 21. Jahrhundert, und damit überlebensfähige Strukturen Einzug halten sollten.
1 „Die Agrarpolitik muss sich auf das Kerngeschäft konzentrieren“, Beitrag von Rudolf Horber, NZZ Nr. 76 vom 30. März 2012.
2 „Halbherzige Agrarreform“, NZZ Nr. 27 vom 2. Februar 2012.
3 „Vom Mythos genährt“, Beitrag von Claudia Wirz in der ZEIT Nr. 7 vom 10. Februar 2011.
4 „Tierfreunde vom Agrarminister positiv überrascht“, TA vom 2. Februar 2012.
5 „Mächtige Bauern“, Beitrag von Benjamin Tommer in der NZZ am Sonntag vom 27. Februar 2011.
6 „Unsere Bauern und Ägypten“, Beitrag von Thomas Held im MAGAZIN 8/2011.
7 „Der Subventionskönig aus dem Jura“, TA vom 25. März 2011.
8 „Vier Bundes-Millionen für vier Viehhändler“, NZZ am Sonntag vom 27. März 2011.
9 Zitat von Marianne Kleiner, Nationalrätin, NZZ am Sonntag vom 30. Januar 2011.