Am 27. September 2020 stimmen wir über die SVP-Initiative «Für eine massvolle Zuwanderung» ab. Da die meisten Stimmberechtigten dieser Idee grundsätzlich folgen könnten, lohnt es sich, vorerst im Initiativtext weiterzulesen. Denn der Titel (die Schalmeienklänge aus der SVP-Propagandaküche) tönt bewusst harmlos, die Folgen einer Annahme wären aber alles andere.
Bitte fertiglesen
Zum Initiativtext: «1. Die Schweiz regelt die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern eigenständig. 2. Es dürfen keine neuen völkerrechtlichen Verträge abgeschlossen und keine anderen neuen völkerrechtlichen Verpflichtungen eingegangen werden, welche ausländisch Staatsangehörigen eine Personenfreizügigkeit gewähren. 3. Bestehende völkerrechtliche Verträge und andere völkerrechtliche Verpflichtungen dürfen nicht im Widerspruch zu den Absätzen 1 und 2 angepasst oder erweitert werden».
Weiter unten ist zu lesen, dass anzustreben ist, auf dem Verhandlungsweg zu erreichen, dass das Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweiz und der EU über die Freizügigkeit innerhalb von zwölf Monaten bei Annahme dieser Initiative ausser Kraft tritt. Gelingt dies nicht, so kündigt der Bundesrat das Abkommen innert weiteren 30 Tagen.
Was hiesse das?
Die Kündigung der Personenfreizügigkeit mit der EU, das tönt ja für viele nicht schlecht, wir sind ja schliesslich in der Lage, die Zuwanderung nach eigenem Gutdünken zu regeln? Allerdings: Die anderen sechs Verträge der Bilateralen I würden zufolge der «Guillotine-Klausel» ebenfalls wegfallen. Doch diesen Verträgen verdanken wir über 20 Jahre Wohlstand im Land, direkten Zugang für unsere Exportindustrie zum wichtigsten Exportmarkt. So profitieren wir aber auch z.B. vom Schengen- und Dublin-Assoziierungsabkommen, die für die Sicherheit und das Asylwesen der Schweiz zentral sind. Für unsere Jugend garantiert der freie Zugang zu allen Universitäten in Europa eine zeitgemässe Weiterbildungsstätte und verhilft zu einem modernen Weltverständnis.
Nachdem Christoph Blocher seit rund 30 Jahren «gegen den schleichenden Beitritt zur EU» phantasiert (eine seiner Lieblings-Drohkulissen), fährt jetzt seine Tochter Magdalena Martullo-Blocher auf dem gleichen Einbahn-Gleis dem Vater hinterher. Sie sieht viele Wirtschafts-Chefs in der Schweiz «aufseiten der EU» stehen. Diese abgedroschenen Anti-EU Aufrufe passen zwar zu Blochers Kriegsrhetorik im Albisgüetli («wir haben eigentlich schon einen dreissigjährigen Bürgerkrieg hinter uns»), doch bewirkt diese Art von Realitätsverlust heute nur noch Achselzucken. Wir brauchen diese Worthülsen nicht mehr.
Unser Land ist keine «marode Gesellschaft» (Blocher an der SVP-Delegiertenversammlung), die Mehrheit der Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wissen sehr wohl, worum es am 27. September 2020 an der Urne geht. Sie vertraut auf den eigenständigen Weg der Schweiz, statt EU-Beitritt bilaterale Verträge, statt feindlichen Szenarien stabile Beziehungen zu uns friedlich gesinnten Nachbar-Staaten.
Was der Bundesrat will
Unsere Justizministerin Karin Keller-Sutter bewahrt Übersicht. Sie plädiert für Achtsamkeit. Da der Initiativtext eindeutig formuliert ist, warnt sie eindrücklich vor einem Hochrisikospiel mitten in der Corona-Wirtschaftskrise. Ganz im Sinne einer modernen Politstrategie ist es ihr gelungen, neben den Arbeitgebern auch die Gewerkschaften mit ins Boot zu holen – zu kooperieren ist zeitgemässer als zu stur gegen den eingebildeten Feind zu kämpfen. «Die Zuwanderung ist auf dem tiefsten Stand seit 2002,» sagt sie auch noch, sie hat Zugang zu den neusten Zahlen des Bundesamtes.
Bundesrat Guy Parmelin doppelt nach. «Die Partei spielt ihre Rolle (!), der Bundesrat auch. Der Bundesrat hat seine Meinung nicht geändert und ich als Wirtschaftsminister auch nicht. Wir sind gegen die Initiative, weil wir darin eine Gefahr für unseren Standort sehen.» Auch das ist «Klartext».
Der Bundesrat signalisiert Einigkeit: Keine politischen Experimente, bitte. Er erinnert nochmals daran, dass es bei der Abstimmung vom 27. September nicht nur um die SVP-Kündigungsinitiative geht, sondern grundsätzlich um den bilateralen Weg zwischen der Schweiz und der EU. Die Annahme dieser Initiative hätte weitreichendere Folgen als die legendäre EWR-Abstimmung 1992. Damals hatte unser Land keine bilateralen Abkommen…
Sie kommen und gehen
Bei der Personenfreizügigkeit dreht sich die Diskussion meistens um die Zuwanderung aus dem EU-Raum in die Schweiz. Diese war in der Folge der Finanzkrise von 2008 stark angestiegen, was die SVP dazu bewog, die Personenfreizügigkeit künden zu wollen. Waren es in den frühen 70er-Jahren Italien, später Ex-Jugoslawien, nach 1990 Portugal und eben, nach 20008 Deutschland, aus denen vergleichsweise viele Menschen in die Schweiz migrierten (Hochkonjunktur), hat sich das Bild seit 2017 geändert.
Doch wer nur die Zahlen der Zuwanderung in die Diskussionen schleudert, macht einen Fehler. Sie kommen nicht nur, sie gehen auch – die Menschen aus den EU-Ländern. Wer die Zahlen des Bundesamts für Statistik (BFS) der «Wanderung der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung» studiert, stellt fest: Zwischen 2007 und 2018 (letzte verfügbare Angaben) betrug die Einwanderung jährlich durchschnittlich 150'000 Personen. Berücksichtigt man die gleichzeitig erfolgte Auswanderung, verblieb für die Jahre 2007 – 2013 ein Wanderungssaldo von gut 80'000 Personen/Jahr, für die Jahre 2014 – 2018 ein solcher von gut 65'000, tendenziell sinkend. Das tönt doch schon ganz anders.
Auch zu diesem Thema lieferte Bundesrätin Keller-Sutter die neuesten Zahlen. In einem Interview im August 2020 wies sie beiläufig darauf hin, dass die Zuwanderung 2019 netto noch 32'000 Personen betrug.
Das Problem mit den Asylbewerbern
Mit Recht wird bei der Ausländer-Diskussion immer wieder darauf hingewiesen, dass rund 90 Prozent der Asylbewerber Sozialhilfe beziehen, also nicht arbeiten. Damit lässt sich sehr gut Stimmung machen, auch wenn dieses Thema eigentlich gar nicht zur EU-Freizügigkeit gehört. Doch auch in diesem Fall sollte man abrücken von Pauschalurteilen. Unser System ist nicht mehr zeitgemäss. Asylsuchende dürfen ja anfangs gar nicht arbeiten, also müssen sie Sozialhilfe beziehen. Bauen wir doch zuerst einmal unser Sozialsystem um, damit es migrationstauglicher wird. Es darf doch nicht sein, dass kinderreiche Familien mehr Geld an Sozialhilfe bekommen, als sie bei voller Erwerbstätigkeit erhielten.
Warum das NEIN zur Initiative
Über die weiteren Gründe für ein JA oder NEIN an der Urne liesse sich noch seitenlang schreiben. Deshalb, um es kurz zu fassen, hier noch abschliessend einige Gedanken, warum dieses landspaltende Begehren der SVP abzulehnen ist.
Die Schweiz benötigt laufend – sogar in steigendem Ausmass – Fachkräfte aus dem Ausland, unsere Exportunternehmen mit weltweit gutem Ruf müssen an der Spitze der technologischen Entwicklung mithalten. Auch brauchen wir den diskriminierungsfreien Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Eine Benachteiligung unseres Hochschul- und Forschungsstandort wäre fatal, ebenso die Einschränkungen für unsere Jugend beim Studium im europäischen Einzugsgebiet. Die Jungen sind es ja, die über Erfolg oder Misserfolg der schweizerischen Exportbranche entscheiden werden. Und damit über den Wohlstand in unserem Land.
Bundesrat, Parlament, alle politischen Parteien mit Ausnahme der SVP/AUNS, Economiesuisse und Gewerkschaften – sie alle plädieren für ein NEIN am 27.September 2020.